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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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gerüstet, aber wie du dir denken kannst, hat er das weder von mir noch von dir.
    Auf einem dornigen Becherstrauch falten sie die große, in Plastikfolie eingeschweißte Karte aus, eins zu fünfzigtausend. Sie beugen sich darüber, Kopf an Kopf. Wo sind wir? Vielleicht hier? Nein, das ist überhaupt verkehrt herum.
    Sie strengen die Augen an. Zwei Finger irren hin und her, stoßen aneinander, kreuzen einer die Wege des andern.
    Hier ist unser Weg.
    Ja, der ist eingetragen.
    Der Israelweg, das hat der Typ doch gesagt.
    Welcher Typ? fragt sie.
    Der, den wir getroffen haben.
    Ihr Finger läuft schnell den ganzen Weg zurück, bis er an die Grenzlinie stößt.
    Hoppla, sie hält an und zieht den Finger weg, der Libanon.
    Meiner Meinung nach, murmelt er, haben wir etwa hier angefangen.
    Vielleicht hier, zeigt sie, denn da sind wir gleich in das Wadi eingestiegen, weißt du noch?
    Wer könnte das vergessen?
    Und in dem Wadi sind wir immer so zickzack gegangen.
    Sie führt ihre Finger über die Windungen des Weges. Avrams Finger immer neben und ein bisschen hinter ihren. Hier, hier sind wir aufgestiegen, und hier war die Holzbrücke, und da haben wir die Mehlmühle gesehen, und ungefähr hier haben wir die erste Nacht geschlafen. Oder hier? Bei Kfar Juval? Wie soll sich einer erinnern. Was haben wir denn in den ersten Tagen gesehen, sagt sie, wer hat da überhaupt irgendwas gesehen. Er schaut sie an und sagt, ja, ich war wie ein Zombie.
    Hier ist der Steinbruch von Kfar Giladi und hier der Wald von Tel Chai, den Weg mit den Skulpturen sind wir gegangen, und hier haben wir gegessen, bei Ejn Ro’im. Ich hab zu der Zeit gar nichts wahrgenommen. Nein, wirklich nicht, du bist gelaufen und hast mich verflucht, dass ich dich mitgeschleppt habe. Und ungefähr da, denke ich, haben wir Akiba getroffen, und hier sind wir ins Wadi hinuntergestiegen. Schau mal, das war ein ganz schönes Stück zu gehen, siehst du? Ja, und das ist bestimmt das arabische Dorf – was davon noch übrig ist. Ich hätte es mir gern angeschaut, aber du bist weitergerannt. Ich hab schon genug Ruinen in meinem Leben. Und das ist Nachal Kedesch. Dann haben wir hier geschlafen. Und von hier sind wir den Abhang hochgeklettert, und da haben wir diesen Typ von dir getroffen. Seit wann gehört der mir? Ihr Finger verharrt auf der Karte, hinterlässt für einen Moment einen Abdruck auf der Plastikhülle, und da ist schon das Jescha-Fort, und das Scheichgrab Nebi Joscha. Und hier, siehst du, von hier sind wir den Keren Naftali hochgeklettert, und dann gleich wieder runter, weil du dein Notizbuch im Nachal Kedesch vergessen hattest. Und hier war noch ein Wadi, der Nachal Dischon. Auf der Karte sieht er ganz harmlos aus, und schau hier, die Turbinen, von denen wir nicht wussten, was die da sollen: »Regionale Wasserpumpstation Ejn Aviv«, na schön, wieder was gelernt. Und ich glaube, in diesem Pool haben wir uns gewaschen, und hier sind wir auf diesem riesigen Rohr über dem Wasser gelaufen. Da hab ich vielleicht geschlottert. Wirklich? Davon hab ich nichts gemerkt, Ora, du hast gar nichts gesagt. Sobin ich eben. Und hier, siehst du, ist dein Märchenwald, Nachal Zivon. Und das ist die Weide, über die wir vorhin gekommen sind. Ja, natürlich. Und hier die Straße. Stimmt. Da stand »Straße 89«.
    Wenn wir also hier rübergegangen sind, sagt er ungläubig, dann müssten wir jetzt hier sein …
    Auf dem Meron! Sagt sie ungläubig.
    Wir sind auf dem Berg Meron?
    Ja, sieh doch selbst.
    Ihre Finger versammeln sich in einer gewissen Ehrfurcht. Avram, murmelt sie, schau mal, wie viel wir gelaufen sind.
    Er steht auf, kreuzt die Arme vor der Brust und geht zwischen den Bäumen auf und ab.
    Sie falten die Karte zusammen, schultern die Rucksäcke und klettern weiter den steilen Hang hinauf, bahnen sich einen Weg durch die Dornen. Jetzt geht Avram vor. Ora fällt es ein bisschen schwer, mitzuhalten. Diese Schuhe sind doch ganz gut, stellt er für sich fest. Und prima Socken. Er findet einen langen, elastischen Zweig, von einem Erdbeerbaum, bricht ihn mit einem Tritt auf die richtige Länge und benutzt ihn zum Gehen und Klettern, und er rät auch Ora, hier einen Stock zu benutzen. Er stellt fest, dass die Wegmarkierungen auf diesem Teil ausgezeichnet sind; dicht und ohne Unterbrechungen, so, wie es sein muss. Sie hat den Eindruck, er summt etwas vor sich hin.
    Ein Glück, dass der Weg so lang ist, denkt sie, und betrachtet ihn von hinten: So haben wir Zeit, uns an all die

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