Eine Frau flieht vor einer Nachricht
mit den Menschen darin, einzelne, Pärchen, manchmal ganze Familien, und dachte, das Leben, das sie bisher geführt hatte, war jetzt vorbei. Noch immer schaute sie Avram nicht direkt an.
Die Schwester gab ihr eine Stoffmaske, gegen die Geruch. Der Arzt und die Schwester begannen, Avram auszuziehen. Brust, Bauch und Schultern waren übersät mit offenen entzündeten Geschwüren, tiefen Wunden, Blutergüssen und sonderbaren Schnitten mit scharfen Rändern. Die rechte Brustwarze schien nicht mehr an ihrem Platz zu sein. Der Arzt legte seinen behandschuhten Finger auf jede einzelne Wunde und diktierte der Schwester mit ausdrucksloser Stimme, offener Bruch, Prellung, Schnittwunde, Ödem, Peitschwunde, Strom, Quetschung, Verbrennung, Strangulationszeichen, Infektion. Auf Malaria untersuchen, fuhr er im selben Ton fort, auf Bilharziose untersuchen, siehst du das da – ein Fest für die plastischen Chirurgen.
Er und die Schwester drehten Avram auf den Bauch, so dass man den Rücken sah. Ora schaute nur kurz hin, sah einen lebenden Fleischklumpen, der in Rot, Gelb und Lila waberte. Sie spürte, alles drehte sich ihr um. Der Gestank war unerträglich. Auch der Arzt hielt den Atem an, und seine Brille beschlug von innen. Er entblößte Avrams Hintern und holte tief Luft: Diese Bestien, murmelte er. Ora saß da, schaute aus dem Fenster, weinte still und ohne Tränen. Der Arzt bedeckte Avrams Hintern und schnitt ihm die Hosen ab. Die Beine waren an drei Stellen gebrochen. Um die Knöchel war das offene Fleisch in riesigen blutigen Ringen aufgeschwollen, die aussahen, als ob etwasin ihnen lebte. Der Arzt machte der Schwester mit der Hand ein Zeichen von »aufgehängt«, und Ora sah Avram in einer dunklen Zelle an den Beinen hängen mit baumelndem Kopf und begriff plötzlich: Die ganze Zeit, die er in Gefangenschaft gewesen war, hatte sie es nicht gewagt, sich vorzustellen, was sie ihm da antaten, weil er Soldat beim militärischen Nachrichtendienst gewesen war und so viel wusste. Sie hatte alle Bilder und Gedanken verjagt, die sich in den Momenten vor dem Einschlafen auf sie stürzten, und die Schlaftabletten, die sie nahm, wirkten sogar gegen Albträume – und jetzt konnte sie es nicht fassen, dass Ilan und sie kein einziges Mal über Folter gesprochen hatten und darüber, was einem passiert, der gefoltert wird.
Sie machte sich klar, dass sie in der ganzen Zeit überhaupt sehr wenig über Avram geredet hatten, obwohl doch nichts anderes sie in diesen Tagen und Wochen beschäftigte und sie fast jeden Tag zur Dienststelle für die Betreuung der Familien von Gefangenen und Vermissten fuhren, um den neuesten Stand der wenigen Nachrichten und die zahllosen Gerüchte zu erfahren. Immer wieder hatten sie sich die unscharfen Fotos der Kriegsgefangenen angesehen, die im In- und Ausland veröffentlicht worden waren, hatten mit Offizieren und Angestellten geredet, die bereit waren, ihnen zuzuhören, und wenn sie nicht selbst hinfuhren, riefen sie an und fragten, ob es etwas Neues gebe, doch schon spürten sie, wie man ihnen auswich und sie von einem zum Nächsten weiterverband. Aber sie hatten nicht aufgegeben, wie denn auch, sie waren wie verrückt gewesen in dieser ganzen Zeit; wenn sie etwas aßen, dachten sie, das isst er nicht, und wenn im Radio ein Stück kam, das er mochte, dachten sie, das hört er nicht, und wenn sie etwas Schönes sahen, dachten sie, das sieht er nicht.
Der Arzt sagte, keine Sorge, du kriegst ihn wie neu zurück, und Ora starrte ihn an. Sie wusste, wenn der Krankenwagen für einen Moment anhielte, sie würde die Tür aufmachen und fliehen. Es ging über ihrer Kräfte. Der Arzt fing an, etwas in einen dicken Hefter zu notieren, und hielt inne: Dein Freund?
Sie nickte.
Er betrachtete sie lange, das wird schon wieder, sagte er schließlich, diese Schweine haben ganze Arbeit geleistet, aber wir sind besser. Glaub mir, in einem Jahr wirst du ihn nicht mehr wiedererkennen.
Und wie wird er im … Sie stotterte und ihre Hand sank mutlos. Allein die Frage war schon Verrat.
Im Kopf? murmelte der Arzt, das ist nicht mehr meine Abteilung, sein Gesicht verschloss sich, und er kehrte zu seinen Papieren zurück. Ora warf der Schwester einen flehenden Blick zu, doch auch die wich ihr aus. Da zwang sie sich, Avram anzuschauen. Man darf ihn jetzt keinen Moment ohne liebenden Blick lassen, dachte sie und schwor sich, ab jetzt würde sie ihn immer liebend anschauen, immer bei ihm sein, um ihn liebend anzuschauen, und wenn
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