Eine Frau flieht vor einer Nachricht
Jarkon ins Meer mündet, okay? Von da aus habt ihr vielleicht einen, eineinhalb Tage am Jarkon entlang, nicht besonders toll, es gibt ein paar schöne Stellen, ansonsten stinkt es da ziemlich, dann drei Tage ganz gemütlich von Rosch HaAjin bis Latrun und Schaar HaGai, und von dort seid ihr in einem Tag in Jerusalem. Zuletzt geht es sehr schnell, lacht der Gelockte, bei Schaar HaGai werdet ihr das Zuhause wie einen Magnet spüren. Ora und Avram schauen sich erschreckt an. Nur zehn Tage? Und was dann? Und was danach?
Ora, warte, du rennst wieder so.
So geh ich eben.
Schon ein paar Stunden geht sie so. Sie hat einen wilden, knurrenden Gang. Avram und die Hündin laufen hinter ihr, wagen es nicht, sich ihr zu nähern. Sie bleibt nur stehen, wenn sie nicht mehr kann, wenn ihre Füsse sie nicht mehr tragen.
Das Alon-Tal, Affodill, Zyklamen, erster Mohn; dann zeigt sich plötzlich das Meer. Seit Beginn der Wanderung hat Ora auf diesen Moment gewartet, und jetzt hält sie noch nicht einmal an, weist noch nicht einmal mit der Hand auf ihr geliebtes Meer, geht einfach zähneknirschend weiter, ächzt angestrengt, und Avram immer hinter ihr. Das Wandern fällt ihnen auf dem Carmel schwerer als in den Bergen Galiläas. Hier sind die Wege felsiger, von dornigen Sträuchern überwuchert, und immer wieder muss man über umgestürzte Bäume steigen. Kohlmeisen und Eichelhäher kreisen über ihnen, schreien einander aufgeregt etwas zu, begleiten sie ein Stück Wegs, bis sie sie an die Nächsten übergeben. Gegen Abend, zum Sonnenuntergang, bleiben beide vor einem riesengroßen Kiefernzapfen stehen, er liegt geöffnet mitten auf dem Weg, von westlichen Sonnenstrahlen überflutet, und ein sonderbarer purpurner Glanz schimmert zwischen seinen Schuppen.
Sie stehen da und schauen ihn an: eine glühende Kohle, aus der das Licht gleichsam hervorbricht.
Doch sofort reißen sie sich los. Weiter. Avram merkt, auch er wird nun unruhig, wenn sie irgendwo nur für einen Moment verweilen. Auch ihn quält jetzt eine neue Angst. Er denkt, wenn wir an eine Straße kommen, nehmen wir vielleicht den Bus. Oder sogar ein Taxi.
Beim Abstieg zwischen großen Felsen halten sie sich an Wurzeln und Felsspalten fest. Immer wieder muss Avram zurückklettern und die Hündin tragen, wenn sie angesichts der tief eingeschnittenen Schluchten zu jaulen beginnt. Auch als es dunkel wird, gehen sie noch weiter, solange sie den Weg und die Wegmarkierungen erkennen können. Danach schlafen sie für kurze Zeit, erwachen aber mitten in der Nacht unruhig, ganz wie in den ersten Nächten ihrer Wanderung, weil die Erde brummt und beständig unter ihnen murmelt. Sie sitzen vor dem Feuer, das Avram angezündet hat, und trinken den von ihm gekochten Tee. Furchtbar ist die Stille und das, was sie erfüllt. Ora schließt die Augen und sieht die kleine Straße, die zu ihrem Haus in Bejt Zajit führt, sie sieht das Gartentor, die Stufen zur Haustür. Wieder hört sie Ilan sagen, dass Adam ihr Grüße ausrichte; in Ilans Stimme kann sie Adams Besorgnis hören, sein Mitleid. Warum macht er sich plötzlich Sorgen? Warum bemitleidet er sie? Sie springt auf, packt das Geschirr ein, stopft alles in den Rucksack.
Im Mondlicht gehen sie weiter, bis es heller wird. Schon ein paar Stunden lang haben sie kein Wort mehr miteinander gesprochen. Avram spürt, sie rennen, um rechtzeitig bei Ofer zu sein, wie einer rennt, um jemanden aus Trümmern zu bergen, wenn jede Sekunde zählt. Es ist nicht gut, dass sie schweigt, denkt er, dass sie nicht über Ofer redet, gerade jetzt müssen wir über ihn reden. Sie muss über ihn reden.
So beginnt er, mit sich selbst zu reden. Im Stillen erzählt er Dinge von Ofer, die er von ihr gehört hat, Kleinigkeiten, kleine Begebenheiten, Wort für Wort.
Sag mir nur, dass er okay ist, brummt er später, als die Sonne schon blendet. Er hat sich plötzlich vor sie gestellt und ihr den Weg versperrt: Sag mir, dass ihm nichts passiert ist, dass du mir nichts verheimlichst. Schau mich an! Er schreit. Beide ringen nach Luft.
Ich weiß nur, was bis gestern Nacht geschehen ist. Bis dahin war er in Ordnung. Ihr Gesicht hat seine Konturen verloren. Er spürt, dass ihr in der letzten Stunde, zwischen dem Teetrinken und dem Sonnenaufgang, etwas passiert ist. Sie sieht elend und heruntergekommen aus, als habe sie einen lang andauernden Kampf plötzlich verloren.
Was ist dann nicht in Ordnung? Wieso bist du seit gestern so? Was hab ich dir getan?
Deine Freundin,
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