Eine Frau geht ihren Weg
Daniel verachten und hassen müsste. Doch ihre Argumente überzeugten sie nicht.
Nachdem sie mit ihrem Bruder telefoniert hatte, rief Sybil ihre Sekretärin an. Auf ihre Frage hin erklärte sie sich bereit, ins Büro zu kommen und mit ihr zu arbeiten.
Sybil packte einige Dosen Mineralwasser und einen Apfel ein, nahm ihren Aktenkoffer und fuhr los.
Der Bericht lenkte sie eine Weile von ihren Problemen ab. Doch bald war sie mit ihren Gedanken wieder bei Daniel und dem vergangenen Abend, an dem er wütend ihre Wohnung verlassen hatte.
Gereizt warf sie ihren Bleistift auf die Schreibtischplatte und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Was war nur mit ihr los? Es war schließlich nicht das erste Mal, dass sie sich einbildete, in einen Mann verliebt zu sein. Natürlich kam es nicht oft vor, aber deshalb musste sie sich doch nicht dermaßen aus dem Gleis werfen lassen.
Sie griff wieder nach ihrem Bleistift und widmete sich mit eiserner Entschlossenheit ihrer Arbeit. Jetzt war nicht der Zeitpunkt, sich Gefühlsduseleien hinzugeben.
Sybil arbeitete bis spät am Abend, und auch am Sonntag saß sie schon frühmorgens zusammen mit Mary wieder in ihrem Büro.
Am Abend um halb zehn war der Bericht für Southey endlich fertig, und nachdem ihre Sekretärin das Büro verlassen hatte, ging Sybil müde durch den dunklen Flur zum Ausgang, wo ein Taxi auf sie wartete. Noch nie in ihrem Leben war sie sich so einsam und verlassen vorgekommen.
Seite 58 von 73
9. KAPITEL
Montag morgen lag der Bericht für die Firma Southey sauber abgetippt und kopiert auf Sybils Schreibtisch. Nachdenklich schaute sie auf den fünf Zentimeter hohen Stapel Papier und fragte sich dabei, wie es möglich war, dass eine harmlose Ansammlung von Worten soviel Aufregung und Kummer verursachen konnte.
Doch trotz allem war sie stolz auf ihre Leistung, und voller Befriedigung bat sie Gloria und Steve zu sich herein, damit die beiden gemeinsam mit ihr über den Erfolg freuen konnten.
„Du hast also doch in Big Bear gearbeitet!” bemerkte Gloria überrascht. „Nachdem du abgereist warst, erzählte mir Mary, dass das Projekt verschoben wurde. Es gehörte eine gehörige Portion Zuversicht dazu, trotzdem weiterzuarbeiten.”
Sybil blickte etwas verlegen auf den umfangreichen Bericht. „Ich hatte erfahren, dass das Projekt reaktiviert worden war.”
„Aufgeschoben oder nicht, ich hätte jedenfalls meinen Urlaub mit Angeln verbracht”, sagte Steve lachend.
Seine beiläufige Bemerkung kam der Wahrheit so nahe, dass Sybil es vorzog, auf dieses Thema lieber nicht einzugehen. „Ich werde den Bericht heute nachmittag abschicken”, meinte sie und stand auf.
„Schicken?” fragte Gloria entgeistert. „Ich an deiner Stelle würde persönlich in Huntingsdons Büro marschieren und ihm den Bericht auf den Schreibtisch knallen. Du verdienst es, dass …”
„Nein!” unterbrach Sybil sie scharf. „Das werde ich nicht tun. Er muss ihn sowieso erst lesen, bevor er einen Kommentar dazu abgeben kann. Da spielt es doch gar keine Rolle, wie er auf seinen Tisch gelangt.”
Mit etwas verwirrten Gesichtern verließen die beiden das Büro von Sybil, die schuldbewusst errötete, kaum dass sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. Am liebsten hätte sie sie zurückgerufen und ihnen alles erklärt. Doch dazu fehlte ihr der Mut.
Nach Büroschluss bot Gloria ihr an, sie nach Hause zu fahren, doch Sybil ließ sich vor der Werkstatt absetzen, in die sie am Morgen ihren Wagen hatte abschleppen lassen. Ohne Widerspruch zahlte sie die viel zu hohe Rechnung, was ihr einen erstaunten Blick des Kassierers eintrug, der sich offensichtlich schon auf ein Streitgespräch mit ihr vorbereitet hatte.
Zu Hause angekommen, merkte Sybil schnell, dass sie an diesem Tag nicht in der Lage war, allein in ihrer Wohnung herumzusitzen. Obwohl der Himmel mit dicken Regenwolken verhangen war, zog sie sich einen Patchwork-Pullover über, schlüpfte in eine verwaschene Jeans und verließ das Haus. Sie hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, Socken unter ihren Turnschuhen anzuziehen.
Sie ging zu einer Imbissstube, die sechs Straßenzüge von ihrer Wohnung entfernt lag, und trank in einer stillen Ecke eine Tasse Kaffee. Doch auch hier wurde sie das seltsame Gefühl der Verlorenheit nicht los. Da ahnte Sybil, dass sie wohl eine Weile damit würde leben müssen.
Kurz nach zehn kam die Kellnerin an ihren Tisch und blickte vielsagend auf ihre Uhr. „Darf ich Ihnen noch etwas bringen?”
Weitere Kostenlose Bücher