Eine Freundschaft im Winter
erwiderte Jill.
»Zum Teufel, nein. Lasst ihn uns umbringen!«, rief Lisa und schenkte allen Gewürztraminer nach.
»Wenn er mir sagen würde, dass er mich liebt, würde ich im Moment nicht wissen, was genau er damit meint«, sagte Jill.
»Menschen meinen unterschiedliche Dinge, wenn sie ihre Liebe beschwören«, sagte Tom. »Es sollte zwar nicht so sein, aber so ist es.«
»Genau«, stimmte Jill zu. »In diesem Fall könnte ›Ich liebe dich‹ ›Ich hänge an dir‹ bedeuten oder genauso gut ›Bitte, nimm mir nicht die Hälfte von allem‹.«
»Tom, du sagst wahrscheinlich hundert Mädchen im Jahr, dass du sie liebst. Was meinst du damit, wenn du es sagst?«, fragte Lisa.
»Zuerst einmal, Miss Anmaßend, sage ich nicht zu hundert Frauen …«
»Mädchen«, unterbrach Lisa ihn. »Es sind Mädchen.«
»Junge Frauen«, korrigierte Tom. »Also: Ich sage nicht zu hundert jungen Frauen, dass ich sie liebe. Es gibt Liebe, und es gibt Liebe. Es ist ein Riesenunterschied zwischen ›Ich hab dich lieb‹, ›Ich bin verliebt in dich‹ oder ›Ich liebe dich‹. Ersteres heißt nur, dass man glücklich ist, mit dem anderen Zeit zu verbringen.«
»Ich nenne das auch Liebe«, sagte Lisa. »Dieses große Gefühl … Das ist für mich Liebe. Wenn ich jemandem sage, dass ich ihn liebe, bedeutet das nicht, dass ich nur ihn liebe. Ich meine damit, dass ich in seiner Gegenwart dieses große Gefühl erlebe.«
Tom schüttelte den Kopf. »Nein, Liebe ist, wenn man jemandem eine Niere spenden würde«, sagte er entschieden. »Wenn David dir sagt, dass er dich liebt, Jill, solltest du ihm weismachen, dass deine Nieren versagen und du eine Spenderniere brauchst. Wenn er dir eine von seinen anbietet, liebt er dich wirklich. Wenn er es nicht tut, hast du recht – dann will er nur die alte Ordnung in seinem Leben wiederherstellen.«
»Moment mal«, meldete Lisa sich wieder zu Wort. »Du willst also sagen, dass es nur eine Art echter Liebe auf der Welt gibt – die ›Nierenspenderliebe‹?«
»Ja«, antwortete Tom.
»Das nehme ich dir nicht ab«, sagte Lisa. »Meiner Meinung nach gibt es viele verschiedene Arten und Stufen der Liebe. Es gibt diese große, umfassende Liebe, es gibt die ›Ich würde dir jederzeit Geld leihen‹-Liebe, es gibt die ›Ich würde dich pflegen, wenn du krank bist‹-Liebe …«
»Lisa«, unterbrach Tom sie, »all diese Arten von Liebe sind wie Cents, die sich zu einem Dollar addieren. Doch es bedarf immer noch hundert Cents, um einen Dollar zu haben. All diese Schritte sind wichtig und bedeuten im Grunde dasselbe – so wie Cents Geld sind und Dollar auch. Aber so, wie man hun dert Cents braucht, um einen Dollar zu bekommen, braucht man auch die Bereitschaft, einem anderen Menschen aus Liebe eine Niere zu spenden.«
Einen Augenblick lang sah Lisa Tom an, und Tom konnte ihr die Frage ansehen, die sie beschäftigte.
»Ja, ich würde dir eine Niere spenden, Lisa. Wir sind seit Ewigkeiten Freunde«, antwortete er.
Lisas Gesichtsausdruck veränderte sich. Sie fragte sich offensichtlich, ob sie Tom auch eine Niere spenden würde.
Jill beschloss, sie da rauszuholen. »Also, Lisa, wie lange muss das hier gekocht werden?«, fragte sie.
»Neun Minuten pro Pfund. Also müsste der Truthahn eineinhalb Stunden, nachdem das Öl eine Temperatur von ungefähr 170 °C erreicht hat, fertig sein. Ich lasse ihn immer etwas länger drin, falls es am Anfang nicht heiß genug war. Ich möchte schließlich nicht, dass irgendjemand sich den Magen verdirbt.«
»Kommt Jason eigentlich heute auch?«
»Nein«, sagte Tom. »Er unternimmt kaum noch etwas. Manchmal hängen wir nach der Arbeit noch kurz zusammen ab, das ist allerdings auch schon alles.« Er wandte sich Jill zu. »Du hast Jason heute kurz gesehen, als wir den Herzpatienten vom Berg geholt haben.«
»Jason war Toms Komplize, bis er geheiratet und mit Tom gebrochen hat«, erklärte Lisa.
»Gebrochen? Das ist ein bisschen krass formuliert«, sagte Tom.
»Gut, sie hatten nichts miteinander, sondern waren einfach nur unzertrennlich. Wir haben sie damals Tason oder Jom genannt. So wie Benifer«, sagte Lisa. »Ja, es ist scheiße, wenn all deine Freunde erwachsen werden und dich stehen lassen.«
»Na ja, du bist ja noch hier. Und Eric und Hans auch«, erwiderte Tom und machte sich noch ein Bier auf.
Jill äußerte sich nicht dazu, doch sie dachte über ihren Reifegrad nach. Sie fühlte sich mehr als reif. Sie fühlte sich alt. Alt und verbraucht. Sie sah Tom
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