Eine Freundschaft im Winter
»Danke«, erwiderte sie und klang resigniert.
Mike war niedergeschmettert gewesen, sie so zu sehen. Er fragte sich, ob er ihr das angetan hatte; ob es das Gleiche war, wie Schmetterlinge zu fangen und sie in einem Einmachglas zu halten, wo sie genauso starben wie die Raupen, Grashüpfer und Marienkäfer, die er als Kind gefangen hatte. Alle Lebewesen starben in Gefangenschaft. Er hatte das gewusst.
Nun schaute er sich um, sah die Waschmaschine und den Trockner. Er hatte ihr Haus nie als Gefängnis angesehen. Er hatte sich so viel Mühe dabei gegeben, alles zufriedenstellend einzurichten. Andererseits hatte er sich damals auch viel Mühe gegeben, die Einmachgläser zufriedenstellend einzurichten – er hatte Blätter und Gras hineingegeben, einen Stein, ein bisschen Wasser und Löcher in den Deckel gebohrt. Er dachte an Kate, die sich in diesem Haus gelangweilt hatte und einsam gewesen war, während sie ihre Pflichten erledigt hatte.
Nach dem Gespräch hatten er und Cassie sich um die Wäsche gekümmert. Er hatte versucht, Kate auch noch bei ande ren Dingen beizustehen, und ihr gezeigt, wie dankbar er ihr für alles war.
Aber seit Kates Tod verfolgte ihn der Gedanke, sie habe die letzten Jahre ihres Lebens für vergeudet gehalten. Kates Leben war kurz gewesen, und sie war unzufrieden von dieser Welt gegangen. Er hätte alles getan, um es wiedergutzumachen, um ihr das Leben zurückzugeben, selbst wenn sie sich entschieden hätte, es nicht mehr mit ihm zu verbringen.
Doch vielleicht war es nur ein flüchtiger Moment. Wir alle kennen solche Momente, in denen wir nur die Opfer sehen, die wir gebracht, und nicht das, was wir gewonnen haben. Das ist völlig normal.
Er hoffte, dass diese Momente in Wirklichkeit nur einen kleinen Teil vom großen Ganzen ausgemacht hatten. Für ihn war es jedenfalls so gewesen. Vor seinem inneren Auge tauchte das Bild von ihnen zu dritt auf einer Picknickdecke auf, das während eines Sommerkonzerts vor ein paar Jahren entstanden war: Kate lehnte an seiner Brust, Cassie an Kates Brust. Seine Mädchen . Und es hatte so viele gemeinsame Tage auf der Piste gegeben. Er hatte immer eine Tüte M&M s in der Tasche gehabt und sie verteilt, wenn Cassie entmutigt oder Kate genervt gewesen war. Sie hatten ihn »Zucker-Daddy« genannt und gelacht, und die Spannung hatte augenblicklich nachgelassen. Er erinnerte sich daran, wie sie während Cassies Auftritt bei einer Talentshow nebeneinander im Publikum gesessen hatten. Cassie war zu einem Disney-Song grinsend auf ihrem Pogo Stick herumgehüpft – und zwar nicht im Takt der Musik. »Ich war noch nie so stolz«, hatte er Kate zugeflüstert. Sie hatte gelacht, aber sie hatte es genauso empfunden. Sie war der einzige Mensch auf der ganzen Welt gewesen, der hatte verstehen können, was er in dem Moment gefühlt hatte. Diese Augenblicke, in denen sie verlässliche Partner gewesen waren, bildeten das große Ganze – eine Familie.
Er trug den Korb mit der trockenen Wäsche die Treppe hoch und kippte ihn auf seinem Bett aus. Zuerst faltete er die Handtücher und danach die Kleidung. Dann machte er für jeden von ihnen einen Stapel. Seine Sachen verteilte er in seine Schub laden, Cassies Wäsche legte er auf ihr Bett. Kates Stapel hielt er einen Moment lang fest in Händen, und tatsächlich dachte er darüber nach, ihre Kleider diesmal wegzuräumen, statt sie wieder, wie er es seit ihrem Tod machte, in den Wäschekorb zu werfen. Er fragte sich, ob er Kates Wäsche jemals würde zusammenlegen können, ohne dass er daran dachte, er hätte ihr Leben vergeudet. Er hängte ihre Hosen in den Schrank, den Rest warf er wieder in den Wäschekorb. Er konnte es nicht ertragen, über ihr Bedauern nachzudenken, doch er konnte es auch nicht ertragen, die Familienwäsche ohne ein paar Stücke von ihr darin zu sehen. Er konnte es nicht.
Nach der Schule sagte Cassie Mike, dass sie zu einer Freundin nach Hause gehen wolle, um dort ihre Hausaufgaben zu machen. Er döste auf der Couch, weil seine Schicht am Vortag so hektisch gewesen war, dass er kaum Schlaf bekommen hatte.
Sie ging durch die Haustür nach draußen, lief dann jedoch nach hinten zum Schuppen, wo sie ihre Tasche fallen ließ und sich eine Schaufel griff. Damit eilte sie die Allee entlang, wo sie sich gegebenenfalls leicht verstecken konnte. Schließlich erreichte sie den Stadtrand und lief über eine Wiese zum Flussbett.
In einer mittleren Rinne plätscherte der Fluss, aber an den Seiten lagen Eis und
Weitere Kostenlose Bücher