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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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Beine überkreuz und die Hände vor sich erhoben, im Lotossitz. Beide Schultern sind von einem Überwurf bedeckt, und der Faltenwurf ist so gestaltet, dass sich dicke, gerundete Wellen bilden. Seine Füße sind großteils darunter verborgen, lediglich zwei Zehen des nach oben gedrehten rechten Fußes sind gerade so zu sehen. Seine Haare sind scheinbar zu einer Art Knoten zusammengebunden, doch in Wirklichkeit handelt es sich dabei um ein Symbol für die Weisheit und den erleuchteten Zustand Buddhas. Gleichmütig blickt er mit gesenkten Augenlidern in die Ferne. Und über seinen Schultern legt sich hinter ihm etwas ums Haupt, was aussieht wie ein großer, grauer Teller, aber natürlich sein Heiligenschein ist.
    Heute findet man Statuen des Buddha, in heiterer Gelassenheit sitzend, überall auf der Welt. Doch wir konnten ihn nicht immer auf diese Weise betrachten. Jahrhundertelang wurde er nur durch ganz bestimmte Symbole dargestellt. Die Geschichte, die davon erzählt, warum sich das geändert hat und weshalb der Buddha in menschlicher Gestalt dargestellt wird, beginnt vor 1800 Jahren in Pakistan.
    Zu dieser Zeit gab es den Buddhismus schon seit einigen Jahrhunderten. Laut buddhistischer Überlieferung war der historische Buddha ein Prinz in der Ganges-Region im Norden Indiens, der im 5. Jahrhundert sein Dasein im Palast seiner Eltern aufgab und fortan als Asket umherwanderte, der die Wurzeln menschlichen Leids erkennen und damit überwinden wollte. Nachdem er schon zahlreiche Erfahrungen gemacht hatte, saß er irgendwann unter einer Pappelfeige und meditierte 49 Tage lang völlig bewegungslos, bis er schließlich Erleuchtung erlangte – also frei war von Begierde, Hass und Unwissenheit. In diesem Augenblick wurde er zum Buddha – dem «Erleuchteten» oder «Erwachten». Er gab sein
dharma
– seine Lehre, seinen Weg – an Mönche und Missionare weiter, die überall in Asien unterwegs waren. Als sich die buddhistische Botschaft Richtung Norden ausbreitete, gelangte sie auch in eine Region namens Gandhara, die im Nordosten des heutigen Pakistan liegt, in der Nähe von Peschawar am Fuße des Himalaja.
    Alle Religionen stehen vor einer Schlüsselfrage: Wie lässt sich das Unendliche, das Unbegrenzte begreifen? Wie können wir Menschen dem Anderen, Gott näher kommen? Manche wollen das durch Singen erreichen, andere allein mit Hilfe von Worten, aber die meisten Religionen haben Bilder gefunden, mit denen der Mensch seine Aufmerksamkeit auf das Göttliche richten kann. Vor nicht ganz 2000 Jahren gewann diese Tendenz bei einer Reihe großer Religionen auffallend an Dynamik. Ist es mehr als nur ein außergewöhnlicher Zufall, dass Christentum, Hinduismus und Buddhismus im gleichen Augenblick damit begannen, Christus, Hindugötter und den Buddha in menschlicher Gestalt darzustellen? Doch Zufall hin oder her: Alle drei Religionen entwickelten zur gleichen Zeit künstlerische Konventionen, die bis heute höchst lebendig sind.
    In Gandhara entdeckte und untersuchte man seit den 1850er Jahren zahlreichebuddhistische Schreine und Skulpturen – von dort stammen denn auch mehr buddhistische Architektur und Bildhauerkunst als aus jedem anderen Teil des alten Indien. Zu diesen Funden gehört auch unsere beinahe lebensgroße und lebendig wirkende Figur. Vor 1800 Jahren muss sie für jeden Buddhisten einen irritierenden Anblick geboten haben. Denn bis dahin war der Buddha eigentlich nur mit Hilfe bestimmter Symbole dargestellt worden – dem Baum, unter dem er zur Erleuchtung gelangte, einem Paar Fußabdrücke und so weiter. Ihm menschliche Gestalt zu verleihen war etwas völlig Neues.
    Den Schritt hin zur Darstellung Buddhas als Mensch beschreibt die Historikerin Claudine Bautze-Picron, die an der Freien Universität Brüssel Kunstgeschichte Indiens lehrt, folgendermaßen:
    «Der Buddha war eine reale historische Gestalt, also war er kein Gott. Vor rund 2000 Jahren entwickelte sich eine Tendenz, verschiedene Gottheiten und weise Männer, die ein paar Jahrhunderte zuvor gelebt hatten, darzustellen. Die erste Evokation von Buddhas Gegenwart findet sich in den kreisförmigen Denkmälern, die man als Stupas bezeichnet. Dort nimmt man auf Buddha Bezug mittels des Baumes, unter dem er saß und ‹erwachte› – was ja das Wort Buddha bedeutet: ‹der Erwachte›. Die Verehrung der Fußabdrücke spielt in Indien noch heute eine wichtige Rolle; sie verweisen auf eine Person, die nicht mehr da ist, aber Spuren auf Erden hinterlassen hat.

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