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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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durchschaut sie als das, was sie sind: ein Traum, eine Illusion, ein Fantasiegebilde.»
    Alle buddhistische Kunst ist darauf ausgerichtet, den Gläubigen von der physischen Welt zu lösen, selbst wenn sie zu diesem Zweck eine physische Darstellung benutzt. Im nächsten Kapitel haben wir es mit einer Religion zu tun, die an die Freuden des materiellen Überflusses glaubt und eine Überfülle an Göttern hat: mit dem Hinduismus.

Goldmünze, die auf der einen Seite ein Pferd und auf der anderen eine Göttin, vermutlich Lakshmi, zeigt.

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Goldmünzen von Kumaragupta I.
    Goldmünzen, aus Indien
Geprägt 415–450 n. Chr.
    Im Nordwesten Londons findet sich eines der irritierendsten Bauwerke der Hauptstadt, ja ganz Großbritanniens. Gemeint ist BAPS Shri Swaminarayan Mandir, der hinduistische Neasden-Tempel – ein riesiger weißer Bau aus italienischem Marmor, der in Indien von über 1500 Steinmetzen kunstvoll bearbeitet und dann per Schiff nach England transportiert wurde.
    Nachdem sie ihre Schuhe ausgezogen haben, betreten die Besucher eine große Halle, die üppig mit Skulpturen von Hindugöttern aus weißem Carrara-Marmor versehen ist. Tagsüber ist der Zutritt nicht gestattet, denn zu dieser Zeit schlafen die Götter, und jeden Tag gegen vier Uhr nachmittags werden sie mit Musik geweckt. Bildnisse wie diese Skulpturen von Shiva, von Vishnu und den anderen Hindugöttern wirken auf uns Heutige zeitlos, doch es gab einen ganz bestimmten Augenblick, an dem diese Sichtweise auf die Götter ihren Anfang nahm. Die Bildersprache des Hinduismus kristallisierte sich wie im Falle des Buddhismus und des Christentums irgendwann um das Jahr 400 unserer Zeitrechnung heraus, und die Formen dieser Gottheiten, die man heute im Neasden-Tempel findet, lassen sich bis zu Indiens berühmtem Gupta-Reich vor rund 1600 Jahren zurückverfolgen.
    Um mit den Göttern in Interaktion zu treten, müssen wir sie erkennen können – aber wie lassen sie sich identifizieren? Der Hinduismus ist eine Religion, die zwar durchaus asketische Züge besitzt, insgesamt aber die Freuden materiellen Überflusses anerkennt und über eine Fülle von Göttern verfügt, die sich in den Tempeln mit allen möglichen Verzierungen, Blumen und Girlanden dargestelltfinden. Die großen Götter Shiva und Vishnu sind leicht zu erkennen: Shiva mit seiner Frau Parvati und seinem Dreizack, und der sitzende Vishnu mit seinen vier Armen, in denen er unter anderem Diskus und Lotosblume hält. In der Nähe der beiden findet man häufig einen Gott, der für die Gupta-Könige vor 1600 Jahren besonders wichtig war, nämlich Shivas Sohn Kumara (heute besser bekannt unter dem Namen Karttikeya). All diese Hindugötter tauchten in der Form, in der wir sie heute kennen, erstmals in den brandneuen Tempeln auf, die von den Gupta-Königen um das Jahr 400 herum im Norden Indiens errichtet wurden.
    In der Münz- und Medaillenabteilung des Museums haben wir zwei Münzen des indischen Königs Kumaragupta I., der von 414 bis 455 n. Chr. regierte. Sie zeigen ganz verschiedene Aspekte des religiösen Lebens dieses Königs. Sie haben fast genau die Größe einer Ein-Pence-Münze, bestehen jedoch aus reinem Gold und liegen deshalb recht schwer in der Hand. Auf der ersten Münze, auf der man normalerweise ein Abbild des Königs erwarten würde, findet sich ein Pferd – ein prächtiger stehender Hengst. Er ist mit Bändern geschmückt, und über seinem Kopf flattert eine große Fahne. Um die Münze herum läuft eine Sanskrit-Inschrift, die übersetzt lautet: «König Kumaragupta, der oberste Herr, der seine Feinde bezwungen hat».
    Warum ist auf der Münze ein Pferd und nicht der König abgebildet? Das geht zurück auf ein altes Opferritual, das schon lange vor dem Hinduismus eingeführt worden war, an das sich die indischen Könige der Vergangenheit stets gehalten hatten und das von den Guptas bewahrt und fortgeführt wurde. Es handelte sich um einen furchteinflößenden und komplexen, ein Jahr dauernden Prozess, den ein König einmal im Leben vollziehen konnte – er kostete ein Vermögen und gipfelte in einem großangelegten theatralischen Opferakt. Kumaragupta beschloss, diesen Ritus zu absolvieren.
    Dazu wurde ein Hengst ausgewählt, rituell gereinigt und dann freigelassen; er sollte ein Jahr lang umherziehen, verfolgt und beobachtet von einer Eskorte aus Fürsten, Herolden und Dienern. Zu ihren Aufgaben gehörte es unter anderem, den Hengst von einer Paarung abzuhalten: Er musste rein

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