Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
bleiben. Am Ende dieses Jahres in sexuell unbefriedigender Freiheit wurde das Pferd in einer komplexen Zeremonienfolge wieder zurückgebracht und schließlichvom König persönlich getötet – mit Hilfe eines goldenen Messers und vor einer großen Zuschauermenge. Unsere Goldmünze erinnert an Kumaraguptas Vollzug dieses alten, vorhinduistischen Rituals, das seine Legitimität und Herrschaft bestätigte. Gleichzeitig jedoch förderte Kumaragupta mit Nachdruck andere, neuere Glaubenspraktiken und berief sich zur Untermauerung seiner irdischen Macht auf andere Götter. Er gab ungeheure Summen aus, um Tempel zu errichten und sie mit Statuen und Gemälden der Hindugötter zu füllen, womit sie sich ihren Verehrern in ganz neuer, eindrucksvoller Gestalt präsentierten. Man könnte sogar sagen: Kumaragupta und seine Zeitgenossen schufen die Götter neu.
Goldmünze, die auf einer Seite eine Statue des Gottes Kumara zeigt, der auf einem Pfau reitet, und auf der anderen Seite König Kumaragupta selbst.
Die Gupta-Dynastie nahm kurz nach dem Jahr 300 ihren Anfang und breitete sich von ihrer Basis im Norden Indiens rasch aus, bis sie schließlich einen Großteil des indischen Kontinents regierte. Um 450 war das Gupta-Reich eine regionale Supermacht, auf einer Stufe mit Persien und dem oströmischen Reich in Byzanz. Kurz nachdem Konstantin 313 dem Christentum in Rom Toleranz garantiert hatte, begründeten die Gupta-Könige in Nordindien zahlreiche dauerhafte Formen des Hinduismus – sie schufen den komplexen Glaubensapparat mit all seinen Tempeln und Priestern und gaben die bildlichen Darstellungen der Götter in Auftrag, die wir heute kennen.
Warum geschah das zu diesem Zeitpunkt in der Geschichte? Wie im Falle des Christentums und des Buddhismus scheinen mehrere Faktoren eine Rolle gespielt zu haben: ein großes Reich, Wohlstand, ein Glauben, der neue Anhänger gewinnt, und die Macht der Kunst. Nur stabile, reiche und mächtige Staaten können große Kunst und Architektur in Auftrag geben, die, anders als Texte oder Sprache, jedem sofort verständlich sind – in vielsprachigen Imperien ein unschätzbarer Vorzug. Und gibt es solche Bauwerke und Skulpturen erst einmal, sind sie von Dauer und werden zum Modell für die Zukunft. Doch während in Rom das Christentum schon bald zur ausschließlichen Staatsreligion erhoben wurde, stellte die Verehrung der Hindugötter für die Gupta-Könige nur eine Möglichkeit dar, das Göttliche zu begreifen und wahrzunehmen. Wir haben es mit einer Welt zu tun, die offenbar kein Problem mit Komplexität hat, die glücklich ist, mit vielen Wahrheiten zu leben, und sie sogar allesamt bereitwillig als offiziellen Teil des Staates deklariert.
Was für eine Beziehung bestand während dieser Blütezeit des Hinduismus unterden Gupta-Königen zwischen Gläubigem und Gottheit? Shaunaka Rishi Das, Hindugeistlicher und Direktor des Oxford Centre for Hindu Studies, erklärt dazu:
«Hindus sehen eine Gottheit alles in allem als anwesenden Gott. Gott kann sich überall manifestieren, insofern gilt die physische Manifestation des Bildnisses als große Hilfe, damit Gott Präsenz erlangen kann. Wenn man in den Tempel geht, sieht man dieses Abbild, das die Präsenz ist. Oder man hat ein Bildnis zu Hause – Hindus laden Gott ein, in diese Gottheits-Form zu schlüpfen, sie wecken Gott am Morgen, indem sie ihm Süßigkeiten anbieten. Am Abend zuvor hat man die Gottheit in ein Bett schlafen gelegt und holt sie nun aus dem Bett, sie wird mit warmem Wasser, Ghee, Honig und Joghurt gewaschen und dann in handgemachte Kleider – meist aus Seide – gesteckt, mit wunderschönen Blumen bekränzt und dann für die Anbetung tagsüber aufgestellt. Es ist ein höchst interessanter Prozess, wie hier die Anwesenheit Gottes praktiziert wird.»
Der Gott, dessen Präsenz Kumaragupta am intensivsten zelebrierte, leitet sich aus seinem Namen her; er entschied sich für Kumara, den Gott des Krieges, und diesen Kumara sehen wir auf unserer zweiten Münze. Mit nacktem Oberkörper hält er einen Speer und sitzt auf einem heiligen Pfau – nicht dem prächtig-eitlen Pfau der abendländischen Tradition, sondern einem aggressiven und furchteinflößenden Tier, auf dem er in den Krieg zieht. Dieses Bild, das vor 1600 Jahren entstand, erkennt man noch heute sofort in zahlreichen Schreinen. Ein Detail freilich ist besonders erwähnenswert: Kumara und sein Pfau stehen auf einem Sockel. Wir sehen also das Bildnis nicht eines Gottes,
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