Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
Daraus entwickelte sich eine noch ausgeklügeltere Struktur, bei der man eine Flammensäule anstelle des Baumes hat, was bedeutet, dass aus dem Buddha Licht kommt. Es gab also Symbole, die schleichend Eingang in die Welt der Kunst fanden und tatsächlich den Weg für die physische Darstellung des Buddha öffneten.»
Unsere Skulptur – eine der frühesten, die wir kennen – stammt vermutlich aus dem 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, als Gandhara von den Kuschan-Königen regiert wurde, deren Reich sich von Kabul bis Islamabad erstreckte. Diese Region war dank ihrer Lage an der Seidenstraße reich geworden, also an den Handelsrouten, die China, Indien und den Mittelmeerraum miteinander verbanden. Von Gandhara aus verlief die Hauptroute Richtung Westen durch Iran nach Alexandria in Ägypten. Wohlstand und politische Stabilität in Gandhara ermöglichten es, eine ganze Fülle von buddhistischen Schreinen, Monumenten und Skulpturen aufzustellen, trugen aber auch zur weiteren missionarischen Expansion bei. Bis heute haben die Religionen überlebt, die mittels Handel und Machtverbreitet und gestützt wurden. Es ist wirklich paradox: Ausgerechnet der Buddhismus, die Religion, die von einem Asketen begründet wurde, welcher alle Bequemlichkeit und Reichtümer verachtete, florierte dank des internationalen Handels mit Luxusgütern. Mit den wertvollen Waren wie Seide kamen die Mönche und die Missionare, und mit ihnen kam der Buddha in Menschengestalt, möglicherweise nicht zuletzt auch deshalb, weil ein solches Bildnis durchaus hilfreich ist, wenn man über eine Sprachbarriere hinweg Lehren verbreiten will.
Es gibt, soweit wir heute wissen, vier Standardposen des Buddha: Er kann liegend, sitzend, stehend oder gehend dargestellt sein. Jede Pose ist nicht Moment oder Ereignis, sondern steht für einen ganz bestimmten Aspekt seines Lebens und Wirkens. Unsere Skulptur zeigt ihn in erleuchtetem Zustand. Er ist wie ein Mönch gekleidet, was durchaus im Rahmen des Erwartbaren liegt, doch anders als bei einem Mönch ist sein Kopf nicht kahlgeschoren. Er legt keinen Wert mehr auf feine Kleidung und hat seinen fürstlichen Schmuck abgelegt. Seine Ohren sind nicht mehr mit Gold beschwert – doch die verlängerten Ohrläppchen weisen noch immer die Löcher auf, die davon zeugen, dass dieser Mann einst ein Prinz war. Und der Lotossitz ist eine Haltung, die bei der Meditation oder, wie hier, bei der Unterweisung eingenommen wird.
Doch diese Statue hat – so wie Tausende andere, die später angefertigt wurden und ganz ähnlich aussehen – einen ganz bestimmten Zweck. Thupten Jinpa, ehemaliger Mönch und Übersetzer des Dalai Lama, erläutert, wie man eine Darstellung wie diese als Hilfsmittel für den eigenen Weg zur Erleuchtung verwenden kann:
«Wer den Glauben praktiziert, verinnerlicht das Bild des Buddha, indem er zunächst das Bild betrachtet und es anschließend in sich in eine Art mentales Bild verwandelt. Und dann reflektiert der Gläubige die Eigenschaften des Buddha – seinen Körper, seine Worte und seinen Geist. Das Bild des Buddha dient also dazu, vor dem geistigen Auge des Verehrers den historischen Lehrer, den Buddha, seine Erfahrung des Erwachens und die zentralen Ereignisse in seinem Leben erstehen zu lassen. Es gibt verschiedene Formen des Buddha, die diese Ereignisse tatsächlich symbolisieren. So gibt es zum Beispiel eine ganz berühmte Haltung des Buddha: sitzend und die Hand zu einer Geste des Predigens erhoben. Diese Geste symbolisiert das Drehen am Rad des
dharma
: Dharmachakra.»
Das ist die Geste unseres sitzenden Buddha. Das Dharmachakra, das «Rad des Gesetzes», steht symbolisch für den Weg zur Erleuchtung. Es ist eines der ältesten buddhistischen Symbole, das sich in der Kunst Indiens findet. In der Skulptur stehen Buddhas Finger für die Speichen des Rades, und er setzt das Rad des Gesetzes für seine Anhänger in Bewegung, die letztlich in der Lage sein werden, die materiellen Zustände der Unwissenheit, des Leids und der Individualität zu überwinden und in den immateriellen Zustand des «höchsten Glücks» einzutreten – das Nirwana. Der Buddha lehrt:
«Nur ein Narr lässt sich vom äußeren Schein der Schönheit täuschen; denn wo ist die Schönheit, wenn man die Verschönerungen der Person wegnimmt, wenn man den Schmuck und die farbenprächtige Kleidung ablegt, wenn die Blumen und Kränze verwelkt und tot sind? Der Weise, der die Nichtigkeit all dieser fiktiven Reize erkennt,
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