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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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– zu sehen war. Als «Gegenleistung» für diese Gaben erwartete man vom Gott Ta’lab, dass er den Menschen Glück brachte.
    Wahab Ta’lab muss ziemlich wohlhabend gewesen sein – nur ein wirklich reicher Mann konnte eine so wunderschön gefertigte Bronzehand als Opfergabe darbringen. Doch nach den damaligen internationalen Maßstäben war die gesamte Gesellschaft dort reich. Zu der Zeit, als unsere Hand entstand, war Südarabien im Grunde weitgehend ein Staat – eine Konföderation von Stämmen wie demjenigen Wahab Ta’labs, die Historiker als himjarisches Königreich bezeichnet haben. Aus dieser Zeit sind viele Monumentalbauten mit zahlreichen Inschriften erhalten geblieben, und sie sind Beleg für eine reiche, komplex strukturierte und in gewissem Maße gebildete Gesellschaft. Der Jemen war damals keine randständige, provinzielle Gegend; er beherrschte den Eingang zum Roten Meer und damit die wichtige Handelsroute, die Ägypten und das übrige Imperium Romanum mit Indien verband. Der römische Schriftsteller Plinius der Ältere erklärte 79 n. Chr. in seiner
Naturalis historia
, warum die Jemeniten so reich waren:
    «Die vorzüglichsten Erzeugnisse daselbst [in Arabien] sind der Weihrauch und die Myrrhe … Im Allgemeinen sind sie [die arabischen Völker] sehr reich, denn bei ihnen bleiben die grössten Schätze der Römer und Parther, da sie Alles, was ihnen das Meer und die Wälder verschafft, verkaufen und dagegen nichts wieder einhandeln.»
    Die «Weihrauchstraße» war für den Austausch von Waren und Ideen in gewisser Weise genauso wichtig wie die Seidenstraße. Die Römer verbrauchten Weihrauch in großen Mengen, und die
Boswellia sacra
(Arabischer Weihrauch) war diewichtigste Weihrauchart in der antiken Welt. Am Altar jedes Gottes im Römischen Reich, von Syrien bis Cirencester, brannte Weihrauch aus dem Jemen. Myrrhe diente verschiedenen Zwecken: als Antiseptikum bei eiternden Wunden; zur Einbalsamierung (sie war unabdingbar für die Mumifizierung in Ägypten); und als Parfüm. Es handelt sich zwar nicht um einen besonders starken Duft, er hat aber die längste Lebensdauer von allen bekannten Düften. Tatsächlich stand die Myrrhe hinter «allen Wohlgerüchen Arabiens», die Lady Macbeths blutbefleckte Hand nicht wohlriechender machen konnten, sehr wohl aber die Hände von Wahab Ta’lab. Weihrauch wie Myrrhe waren allerdings ausgesprochen teuer. Ein Pfund Weihrauch kostete in etwa so viel, wie ein römischer Arbeiter im Monat verdiente, ein Pfund Myrrhe war doppelt so teuer. Wenn also die Heiligen drei Könige dem Jesuskind Weihrauch und Myrrhe bringen, bringen sie Gaben, die nicht nur einem Gott angemessen sind – sie sind auch genauso wertvoll wie ihr anderes Geschenk, nämlich das Gold.
    Wir verfügen aus dieser Zeit über keine anderen schriftlichen Quellen aus dem Jemen als diese knappen und unklaren Inschriften, doch diese Hand sowie andere Bronzeskulpturen ähnlicher Qualität und die jüngst in Südarabien entdeckte Industrieschlacke aus der Antike belegen, dass der Jemen damals ein wichtiges Zentrum der Bronzeherstellung war. Wahab Ta’labs Hand ist eindeutig das Produkt erfahrener Metallarbeiter. Nimmt man sie genauer in den Blick, so erkennt man, dass sie mit Hilfe des Wachsausschmelzverfahrens (vgl. Kapitel 18) gegossen wurde und am Handgelenk wunderbar abgeschlossen ist. Bei unserer Bronzehand handelt es sich somit ohne jeden Zweifel um ein vollständiges Objekt, nicht um ein Fragment, das von einer größeren Skulptur abgebrochen ist.
    Den Göttern Nachbildungen von Körperteilen darzubringen, war keineswegs eine arabische Besonderheit – man findet solche Repliken in griechischen Tempeln, in mittelalterlichen Pilgerschreinen und in vielen neuzeitlichen römischkatholischen Kirchen; damit bat man einen Gott oder Heiligen um körperliche Heilung oder dankte ihm für die Genesung. Wahab Ta’labs Hand berichtet uns von einer religiösen Welt, in der lokale Götter dominierten, die über ganz bestimmte Orte und Menschen wachten. Doch diese Welt sollte nicht von Dauer sein; arabische Wohlgerüche hatten das religiöse Leben des heidnischen ImperiumRomanum befeuert, doch als dieses Großreich zum Christentum konvertierte und keinen Weihrauch mehr für die Götterverehrung benötigte, versetzte es dem Handel damit einen heftigen Schlag und trug zum Zusammenbruch der jemenitischen Ökonomie bei. Lokale Götter wie Ta’lab verschwanden, vielleicht auch deshalb, weil sie nicht mehr den

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