Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
Menschheitsgeschichte lang und ermöglichte es ihnen, sich zunächst in Afrika und dann auch über die ganze Welt zu verbreiten.
Eine Million Jahre lang bildete das Geräusch der Faustkeilherstellung gleichsam den Pulsschlag des Alltagslebens. Wer mit Hilfe von 100 Objekten eine Weltgeschichte schreiben will, kommt nicht umhin, einen Faustkeil in seine Auswahl aufzunehmen. Dieser steinerne Keil ist deshalb so interessant, weil er uns jede Menge erzählt, nicht nur über die Faust, sondern auch über den Kopf, der ihn hergestellt hat.
Der Faustkeil (engl.
hand axe
, wörtl. Handaxt) aus der Olduvai-Schlucht hat natürlich keinerlei Ähnlichkeit mit einer modernen Axt – es gibt weder einen Griff noch eine metallene Klinge. Es handelt sich um ein Stück Vulkangestein, ein wunderschönes grau-grünes Exemplar, das die Form einer Träne hat. Es istdeutlich vielseitiger als eine klassische neuzeitliche Axt. Der Stein ist so bearbeitet worden, dass an den Längsseiten der Träne scharfe Kanten und an dem einen Ende eine scharfe Spitze entstanden sind. Hält man den Keil gegen die Hand eines Menschen, ist man überrascht, wie gut die beiden Formen sich ineinander fügen, obgleich wir es hier mit einem ungewöhnlich großen Exemplar zu tun haben, das sich nicht wirklich bequem in der Hand halten lässt. Es ist zudem sehr schön gearbeitet, und man kann genau die Stellen sehen, an denen es zugehauen wurde.
Die ersten Werkzeuge der Menschheit wie etwa das steinerne Chopping Tool, das wir in Kapitel 2 in Augenschein genommen haben, wirken auf uns Heutige ziemlich primitiv. Sie sehen aus wie behauene Feldsteine, und sie sind dadurch entstanden, dass man einen großen Stein nahm und ihn gegen einen anderen Stein schlug, so dass ein paar Brocken absplitterten und sich zumindest an einer Seite eine scharfe Kante bildete. Ganz anders verhält es sich bei unserem Faustkeil. Sieht man heute einem Steinmetz bei der Arbeit zu, erkennt man, wie viele Fertigkeiten der Produzent unseres Faustkeils besessen haben muss. Faustkeile schlägt man nicht einfach ab: Sie sind das Ergebnis von Erfahrung, sorgfältiger Planung und Geschick, das über einen langen Zeitraum erworben und verfeinert wurde.
Ebenso wichtig wie das große handwerkliche Geschick, das zur Herstellung dieses Keils benötigt wird, ist für unsere Geschichte der dafür erforderliche gedankliche Sprung – also die Fähigkeit, sich in dem unbehauenen Steinklumpen die Form vorzustellen, die man ihm geben möchte, so wie ein Bildhauer heute in dem noch rohen Steinblock schon die Statue sehen kann, die ihn dort erwartet.
Dieses spezifische Stück Hightech-Stein ist zwischen 1,2 und 1,4 Millionen Jahre alt. Wie schon das Geröllgerät in Kapitel 2 hat man es in der Olduvai-Schlucht in Ostafrika gefunden, in dem tiefen Riss in der Savanne von Tansania. Dieser Stein stammt jedoch aus einer höher gelegenen geologischen Schicht als das Schneidewerkzeug, das mehrere hunderttausend Jahre früher entstanden ist; und zwischen beiden Werkzeugen hat sich ein ungeheurer Sprung vorwärts vollzogen. Erst hier finden wir die wirklichen Anfänge des modernen Menschen. Denjenigen, der diesen Faustkeil fertigte, hätten wir als einen der unseren anerkannt.
Die sorgsam auf ein Ziel ausgerichtete und planvolle Kreativität, die für die Herstellung dieses Keils vonnöten ist, impliziert einen enormen Fortschritt im Hinblick darauf, wie unsere Vorfahren die Welt sahen und wie ihr Gehirn funktionierte. Der Faustkeil liefert aber auch Hinweise auf etwas noch viel Bemerkenswerteres: Dieses bearbeitete Steinwerkzeug trägt möglicherweise das Geheimnis der Sprache in sich, und vielleicht haben wir Menschen bei der Herstellung solcher Gegenstände gelernt, miteinander zu sprechen.
Vor kurzem haben Wissenschaftler untersucht, was neurologisch passiert, wenn ein Steinwerkzeug hergestellt wird. Mittels moderner Computertomographen haben sie herausgefunden, welche Gehirnteile aktiv sind, wenn Steinmetze ihre Gegenstände bearbeiten. Überraschenderweise überlappen sich die Bereiche des modernen Gehirns, die man für die Herstellung eines Faustkeils braucht, in hohem Maße mit denen, die man fürs Sprechen braucht. Wenn man einen Stein bearbeiten kann, kann man also höchstwahrscheinlich auch einen Satz bilden.
Natürlich haben wir keinerlei Vorstellung davon, was der Produzent unseres Faustkeils gesagt haben könnte, aber er oder sie verfügte vermutlich über die sprachlichen Fähigkeiten eines
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