Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
Reading, beschreibt diese Veränderung folgendermaßen:
«Irgendwann in der Zeit vor 50.000 und 100.000 Jahren passierte etwas mit dem menschlichen Gehirn, das dafür sorgte, dass sich diese phantastische Kreativität, Vorstellungskraft und künstlerische Fertigkeit entwickeln konnten – vermutlich wurden verschiedene Teile des Gehirns neu miteinander verbunden, so dass verschiedene Denkweisen miteinander in Beziehung treten konnten, nicht zuletzt im Hinblick darauf, was die Menschen über die Natur und was sie über die Herstellung von Dingen wissen. Damit erlangten sie eine neuartige Fähigkeit, Kunstgegenstände zu produzieren. Doch auch die Bedingungen der Eiszeit spielten eine zentrale Rolle: Die Menschen standen vor großen Herausforderungen, denn siemussten lange, harte Winter überstehen – die Notwendigkeit, enge soziale Bindungen aufzubauen, das Bedürfnis nach Ritualen und Religion, all das trug zum damaligen Aufblühen kreativen Kunstschaffens bei. Zu dieser Kunst gehört ein überwältigendes Gefühl der Freude an der Natur, ihrer Wertschätzung und ihres Lobpreises.»
Diese Wertschätzung gilt nicht nur der Tierwelt – diese Menschen wussten auch, wie man Felsen und Mineralien nutzen konnte. Unsere kleine Skulptur ist das Ergebnis von immerhin vier verschiedenen Steintechniken. Zunächst wurde die Spitze des Zahns mit einem Schneidewerkzeug abgetrennt; anschließend wurden die Konturen der Tiere mit Hilfe eines steinernen Messers und Schabers herausgearbeitet. Dann wurde das Ganze poliert, und zwar mit einem pulverisierten Eisenoxid gemischt mit Wasser, das vermutlich mit einem Ledertuch aufgetragen wurde, und schließlich wurden die Markierungen an den Körpern und die Details der Augen sorgfältig mit einem steinernen Gravurwerkzeug eingeritzt. In Ausführung und Konzeption handelt es sich um ein sehr komplexes Kunstwerk. Es weist alle Merkmale genauer Beobachtung und gekonnter Umsetzung auf, wie man sie von einem großen Künstler erwartet.
Mammut, vor rund 12.500 Jahren aus einem Rentiergeweih geschnitzt.
Warum aber sollte man so viel Mühe und Sorgfalt auf ein Objekt verwenden, das keinen praktischen Zweck hat? Dr. Rowan Williams, der Erzbischof von Canterbury, erkennt in all dem einen tieferen Sinn:
«Man spürt förmlich, dass das von jemandem gefertigt ist, der sich mit großer Vorstellungskraft in die Welt um ihm herum versetzen konnte, der diesen Rhythmus sah und ihn in den eigenen Knochen spürte. In der Kunst dieser Zeit erkennt man, wie Menschen voll und ganz in den Fluss des Lebens einzutauchen versuchen, so dass sie Teil des ganzen Prozesses tierischen Lebens um sie herum werden, und dabei geht es nicht darum, sich mit der Tierwelt zu arrangieren oder den Jagderfolg sicherzustellen. Ich glaube, dabei geht es um mehr. Es geht um die Sehnsucht, in die Welt einzutauchen und dort zu Hause zu sein, und zwar auf einer tieferen Ebene, und das ist tatsächlich ein sehr religiöser Impuls, in der Welt zu Hause sein zu wollen. Mitunter glauben wir, bei Religion gehe es gerade darum, nicht in der Welt zu Hause zu sein, der Kern des Ganzen spiele sich anderswo im Himmel ab; doch wenn man sich die Ursprünge der Religion anschaut, eine Vielzahl von Fragen, die sich in allen großen Weltreligionen finden, dann ist es genau umgekehrt – es geht darum, wie man im Hier und Jetzt lebt und wie man ein Teil dieses Lebensstroms wird.»
Diese Schnitzarbeit der zwei schwimmenden Rentiere hatte keine praktische Funktion, nur Form. Wurde sie allein wegen ihrer Schönheit gefertigt? Oder diente sie einem anderen Zweck? Indem man etwas darstellt, indem man ein Bild oder eine Skulptur davon anfertigt, haucht man ihm auf fast magische Weise Leben ein und man bestätigt sein Verhältnis dazu in einer Welt, die man nicht bloß erfahren, sondern auch imaginieren kann.
Es ist gut möglich, dass die Kunst, die während der Eiszeit überall auf der Welt entstand, in der Tat eine religiöse Dimension besaß, auch wenn wir über irgendwelche rituellen Verwendungen dieser Kunst nur Vermutungen anstellen können. Doch diese Kunst fügt sich in eine Tradition, die bis heute sehr lebendig ist, ein sich entwickelndes religiöses Bewusstsein, das viele menschliche Gesellschaften prägt. Objekte wie diese Skulptur der schwimmenden Rentiere erlauben uns Einblicke in Denken und Fantasie von Menschen, die weit weg, aber doch wie wir sind – in eine Welt, die diese Menschen nicht sehen konnten, die sie aber unmittelbar
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