Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
Funktionsweise des menschlichen Gehirns vollzogen hatte.
Die Steinwerkzeuge, die wir bisher betrachtet haben, warfen die Frage auf, ob diese Herstellung von Gegenständen uns zu Menschen macht. Kann man sich ein Menschsein vorstellen ohne die Verwendung von Objekten, mit deren Hilfeman die Welt bewältigt? Ich kann es nicht. Doch es stellt sich sogleich noch eine weitere Frage, wenn man diese uralten Dinge betrachtet. Warum verspüren alle modernen Menschen den Drang, Kunstwerke zu schaffen? Warum wird überall aus dem Werkzeugmacher der Künstler?
Die beiden Rentiere in diesem Kunstwerk schwimmen dicht hintereinander her, und bei ihrer Positionierung hat der Bildhauer die konische Form des Mammutzahns auf brillante Weise zu nutzen gewusst. Das kleinere, weibliche Rentier schwimmt vorne, wobei das Ende des Zahns seine Nasenspitze bildet; ihm folgt, in der nunmehr breiteren Form des Zahns, das größere Männchen. Aufgrund der Krümmung des Elfenbeins sind beide Tiere mit nach oben gerecktem Kinn und nach hinten gebogenem Geweih dargestellt, also genau so, als ob sie schwimmen würden, und auf der Unterseite sind ihre Beine voll durchgestreckt, so dass sie auf ganz wunderbare Weise den Eindruck stromlinienförmiger Bewegung vermitteln. Es handelt sich um ein großartig beobachtetes Stück – und es kann nur von jemandem geschaffen worden sein, der den Rentieren über lange Zeit dabei zugesehen hat, wie sie durch Flüsse schwimmen.
Es ist somit sicher nicht nur Zufall, dass es an einem Fluss gefunden wurde, in einer Halbhöhle im französischen Montastruc. Diese Schnitzerei bietet eine wunderbar realistische Darstellung der Rentiere, die vor 13.000 Jahren in riesigen Herden quer durch Europa zogen. Auf dem Kontinent war es damals deutlich kälter als heute; die Landschaft bestand überwiegend aus offener, baumloser Ebene und sah in etwa so aus wie das heutige Sibirien. Für den menschlichen Jäger und Sammler waren die Rentiere auf diesem unerbittlichen Terrain das wichtigste Mittel zum Überleben. Ihr Fleisch, ihr Fell, ihre Knochen und ihr Geweih lieferten alles, was die Menschen an Nahrung und Kleidung brauchten, und dazu noch das Material für Werkzeuge und Waffen. Solange sie Rentiere jagen konnten, würden sie überleben, und zwar bequem überleben. Es überrascht also nicht wirklich, dass unser Künstler die Tiere ziemlich gut kannte und sich entschloss, ein Bild von ihnen anzufertigen.
Das größere, männliche Rentier weist ein beachtliches Geweih auf, das fast genau so lang ist wie sein Rücken, und wir können sein Geschlecht recht zuverlässig bestimmen, weil der Künstler die Genitalien unter dem Bauch deutlich herausgearbeitet hat. Das weibliche Tier hat ein weniger ausgeprägtes Geweihund auf der Unterseite vier kleine Ausbeulungen, die wie Zitzen aussehen. Doch wir können das Ganze noch genauer beschreiben: Wir sehen diese Tiere eindeutig im Herbst, zur Zeit der Brunft und der Wanderung zu den Winterweidegründen. Nur im Herbst sind Geweih und Fell bei Männchen wie Weibchen so ausgeprägt und in so wunderbarem Zustand. An der Brust des Weibchens sind die Rippen und das Brustbein großartig geschnitzt. Dieses Objekt wurde zweifellos nicht nur mit dem Wissen eines Jägers gestaltet, sondern auch mit der Kenntnis eines Metzgers, von jemandem also, der diese Tiere nicht nur betrachtet, sondern auch ausgeweidet hatte.
Wir wissen, dass dieser detailgetreue Naturalismus nur eine der Stilformen war, die den Künstlern der Eiszeit zur Verfügung standen. Im Britischen Museum findet sich noch eine weitere Skulptur, die in der gleichen Höhle bei Montastruc gefunden wurde. Sie ist von auffallender Parallelität, was kein Zufall sein kann: Sind unsere Rentiere aus dem Zahn eines Mammuts geschnitzt, so zeigt die andere Skulptur ein Mammut, das aus dem Geweih eines Rentiers gefertigt wurde. Das Mammut freilich ist zwar sogleich als solches erkennbar, aber doch ganz anders gestaltet – vereinfacht und schematisiert, irgendwo zwischen Karikatur und Abstraktion. Diese Paarung ist kein bloßer Zufall: Die Eiszeitkünstler verfügen über eine ganze Palette an Stilen und Techniken – abstrakt, naturalistisch, ja sogar surreal –, sie kennen aber auch Perspektive und ausgefeilte Komposition. Wir haben es mit modernen Menschen mit modernen menschlichen Gehirnen zu tun. Sie leben zwar noch vom Jagen und Sammeln, aber sie inter pretieren ihre Welt mittels Kunst. Steven Mithen, Professor an der University of
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