Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
von Ungarn, das Kreuz und führte eine bewaffnete Armee ins Heilige Land. Das Sonderbare daran ist, dass der Handel trotz dieser militärischen Aktivitäten – oder vielleicht gerade durch diese – zu gedeihen schien. Professor David Abulafia, Spezialist für die Geschichte der Mittelmeerländer an der Universität Cambridge, führt dies genauer aus:
«Der Kontakt zwischen Europa und dem Mittleren Osten gründete sich im 12. und 13. Jahrhundert auf einige wirklich intensive Handelsbezieh ungen. Vor allem den Venezianern, den Genuesern und den Pisanern gelang es, unbehelligt ihre Geschäfte abzuwickeln. Dass sie immer noch im Hafen von Alex andria zugange waren, während Saladin seinen Feldzug gegen die Christen im Heiligen Land vorbereitete, führte, wie man sich vorstellen kann, hin und wieder zu gewissen Schwierigkeiten. Die Grundlage dieses Handels war der Austausch von Rohstoffen aus dem Westen gegen Luxusgüter, die aus der islamischen Welt kamen, vor allem Seide, Glaswaren, Keramik und derlei Dinge, die innerhalb Europas nicht in annähernd derselben Qualität hergestellt werden konnten.»
Dieses Phänomen, dass Handel und Krieg Hand in Hand gingen, erklärt eine der herausragendsten Besonderheiten des Hedwigsbechers.
Die Ausgestaltung der Hedwigsbecher zeigt immer wieder ähnliche Bilder: einen Löwen, einen Greif, einen Adler, Blumen und geometrische Motive. Aber unser Becher ist der Einzige, der all diese Elemente vereint. Wir sehen einen Löwen und einen Greif, von denen jeder eine Pranke erhebt, um dem Adler, der zwischen ihnen steht, die Ehre zu erweisen. Ein stark reliefiertes Muster läuft rund um das Glas. Eine Form muss in das Glas gedrückt worden sein, während es noch heiß und weich war, und die Details von Oberfläche und Muster wurden anschließend sorgfältigst ausgearbeitet. Der Becher macht Federn und Pelz fühlbar, vor allem aber bringt er ein starkes Stilempfinden zum Ausdruck. Ich denke, viele Menschen, die dieses Objekt ohne Erklärung sehen, würden denken, es sei ein großartiges Stück Art Deco aus den 1930er Jahren, womöglich aus Skandinavien. Und mit Sicherheit gleichen die Hedwigsbecher nicht dem, was im mittelalterlichen Europa produziert wurde, was sehr gut der Grund dafür sein könnte, dass diese Gruppe von Gläsern mit einem Wunder in Verbindung gebracht wurde.
Diese Becher stammen bestimmt nicht aus der Welt, in der sie gefunden wurden. Die Frage, wo sie entstanden, beschäftigt die Leute seit über 200 Jahren. Wirsind der Frage heute möglicherweise näher gekommen, denn die wissenschaftliche Analyse dieses Glases und anderer Hedwigsbecher zeigt, dass sie nicht aus dem traditionellen europäischen Pottascheglas, sondern aus dem an der Küste des modernen Israel, im Libanon und in Syrien gebräuchlichen Glas der Sodaasche hergestellt wurden. Die Hedwigsbecher ähneln sich in ihrer Gestalt, ihrem Material und ihrem Stil alle so sehr, dass sie gemeinsam in einer einzigen Werkstatt entstanden sein müssen, und diese Werkstatt muss sich in einer dieser Küstenstädte befunden haben – mit großer Wahrscheinlichkeit wurde das Glas von muslimischen Handwerkern gefertigt. Wir wissen, dass zu dieser Zeit große Mengen von islamischem Glas für den Export nach Europa hergestellt wurden: «Damaskus-Glas» findet sich in den Inventarbüchern vieler mittelalterlicher Schatzkammern. Akko, das bedeutendste Handelszentrum des Kreuzfahrer königtums von Jerusalem, war der Haupthafen für diesen Handel. Professor Jonathan Riley-Smith, als Historiker auf die Kreuzzüge spezialisiert, beschreibt die Szenerie:
«Akko, das heute in Israel liegt, wurde der wichtigste Handelshafen im öst lichen Mittelmeer, was bedeutete, dass dort europäische Stoffe verschifft wurden und Gewürze für den Westen wieder ankamen. Wir haben eine faszinierende Liste von Waren, die im Hafen von Akko in der Mitte des 13. Jahrhunderts vertrieben wurden, mitsamt den Zahlungsverpflichtungen der Kunden für jedes Produkt. Die Liste erwähnt zwar nicht jene Glasbecher, aber sie führt muslimische Töpferwaren als einen der hauptsächlichen Posten auf, die besteuert wurden. Das Auftauchen und der Erhalt von Bechern dieser Art in Europa muss im Kontext des ausgeprägten Handels zwischen dem Westen und der Levante und zwischen dem ferneren Osten und dem fernsten Asien betrachtet werden, dessen Angelpunkt ein Kreuzfahrerhafen war.»
All das legt eine faszinierende Vermutung nahe. Wir wissen, dass Hedwigs Schwager,
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