Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
Sprache verfassten Literatur – und zwar von Frauen geschrieben. Dadurch entstand eine Welt, über die wir durchaus eine Menge wissen, und es ist die Welt unseres Spiegels. Die Person, die ihn zuerst benutzte, könnte gut den ersten großen japanischen Roman,
Die Geschichte vom Prinzen Genji
, gelesenhaben – tatsächlich einer der ersten großen Romane der Weltliteratur, geschrieben von der Hofdame Murasaki Shikibu. Ian Buruma, Schriftsteller und Experte für japanische Kultur, erläutert die Hintergründe:
«Murasaki Shikibu war ein bisschen wie Jane Austen.
Die Geschichte vom Prinzen Genji
vermittelt einen außergewöhnlichen Eindruck von der Lebensweise in diesem aristokratischen Treibhaus der Heian-Periode. Was die mittelalterliche Kultur Japans einzigartig macht, ist, dass sie extrem ästhetisiert war; sie machte aus der Schönheit eine Art Kult. Und dieser schloss alle Dinge des täglichen Lebens ein; nicht nur Objekte – wie Spiegel oder Essstäbchen oder was auch immer – sondern das Leben selbst, das natürlich in hohem Maße ritualisiert war. In einer aristokratischen Gesellschaft ist es das immer. Das gilt für alle aristokratischen Gesellschaften, aber möglicherweise übertraf die Aristokratie der Heian-Periode jede andere vorausgegangene oder nachfolgende Kultur. Die Menschen kommunizierten, indem sie Gedichte schrieben, sie veranstalteten Wettbewerbe im Erkennen verschiedener Düfte von Rauchwerk, mit großer Kennerschaft verfolgten sie ihr ästhetisches Streben auf allen Ebenen, was die Beziehungen zwischen Mann und Frau mit einschloss. Natürlich spielten Gefühle dabei auch eine Rolle, und das führte zu Eifersucht und all den gewöhnlichen Formen menschlichen Verhaltens, die Murasaki so schön festhielt.»
Wir können etwas von Murasakis Welt der ästhetischen Verfeinerung und der Räucherstäbchen-Duft-Wettbewerbe in unserem Spiegel erkennen. Auf der Rückseite zeigt die elegante Dekoration ein fliegendes Kranichpaar mit zurückgeworfenen Köpfen, ausgebreiteten Flügeln und mit Pinienzweigen in den Schnäbeln. Ihre gebogenen Hälse passen sich der Rundung des Spiegels exakt an. Der äußere Rand ist mit weiteren schmückenden Pinienzweigen besetzt. Unser Spiegel ist ein streng ausgewogenes, perfekt entworfenes Kunstwerk. Aber neben seiner Schönheit hatte er auch eine Bedeutung: Kranichen sagte man ein langes Leben nach – die Japaner glaubten, dass sie tausend Jahre alt würden. Murasaki erzählt uns von einer ihrer Zeitgenossinnen, die zu einer bestimmten Veranstaltung bei Hofe ein Gewand trug, auf dem Kraniche am Meeresufer zu sehen waren:
«Ben-no-Naishis Schleppe zeigte einen Strand mit Kranichen, gemalt in silberner Farbe. Das war etwas Neues. Sie hatte auch Pinienzweige darauf gestickt; sie ist klug, denn alle diese Dinge stehen für ein langes Leben.»
Die Kraniche haben aber auch noch eine andere Bedeutung – diese Vögel bleiben das ganze Leben lang beieinander und sind deshalb ein Symbol für eheliche Treue. Die Botschaft auf der Rückseite unseres Spiegels ist ganz einfach die von ewiger Liebe. An einer Stelle in der
Geschichte vom Prinzen Genji
nimmt der Held vor dem Aufbruch zu einer langen Reise einen Spiegel, rezitiert vor diesem ein leidenschaftliches Liebesgedicht und überreicht ihn dann seiner Geliebten, damit dieser Spiegel, wenn sie ihn nach seiner Abreise zur Hand nähme, seine Liebesbotschaft und auf der polierten Oberfläche das Bild Genjis selber wiedergäbe. Unser Spiegel mit seinen treuen Kranichen wäre genau der richtige Übermittler einer solchen Liebeserklärung.
Japanische Spiegel konnten freilich auch düstere Botschaften überbringen, und das nicht nur von Mensch zu Mensch – durch sie haben wir Zutritt zur Geisterwelt und können tatsächlich mit den Göttern sprechen. Ian Buruma erklärt:
«Der Spiegel hat in der japanischen Kultur mehrere Bedeutungen, und manche von ihnen scheinen sich zu widersprechen. Zum einen ist er ein Objekt, das böse Geister abwehren soll, zum anderen kann er diese auch anziehen, weshalb die Bewohner eines eher traditionellen japanischen Haushaltes noch heute ihren Spiegel verhüllen, wenn sie ihn nicht benutzen – sie haben ein Tuch, das sie vor ihn hängen, da er sonst böse Geister anziehen könnte. Zugleich ist er ein sakrales Objekt. Im heiligsten Schrein Japans, in Ise, bewahrt der heiligste aller heiligen Teile, den nie jemand zu sehen bekommt, einen der drei großen nationalen Schätze, bei dem es sich
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