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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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Augen und oft ihr ganzes Gesicht zu benetzen. Und noch wunderlicher sogar, nahm sie eben jenes Wasser, um die Gesichter und Köpfe ihrer kleinen Enkelkinder, der Kinder ihres Sohnes, zu reinigen. Sie war fest davon überzeugt, dass die Heiligkeit der Nonnen, die das Wasser berührt hatten, dem Seelenheil der Kinder diente.»
    Obwohl sie eine Herzogin war, kleidete sie sich ärmlich und ging sogar im Schnee barfuß, wo sie, wie berichtet wurde, blutige Fußabdrücke hinterließ. Sie trank nur Wasser, was für die damalige Zeit unerhört war. Diese vollkommene Abstinenz beunruhigte ihren Mann sehr: Es war sehr viel sicherer, Wein zu trinken als Wasser, denn Wasser war für gewöhnlich verunreinigt, und er fürchtete, sie würde krank werden. Aber eines Tages, so will es die Legende, sah der Herzog, wie sie ihr Wasserglas an die Lippen führte und wie sich der Inhalt auf wundersame Weise in Wein verwandelte. Von da an war man von ihrer Heiligkeit und, wie anzunehmen ist, auch von ihrer Gesundheit überzeugt.
    Und damit war auch der Ruhm ihres Glases begründet. Das mittelalterliche Europa hatte ein unstillbares Verlangen nach Reliquien, die mit Wundern in Verbindung standen. Zu den berühmtesten unter ihnen gehörte ein Becher, aus dem vermeintlich bei der Hochzeit von Kanaan getrunken wurde, als Christus sein erstes Wunder wirkte und Wasser in Wein verwandelte. Hedwigs Becher war Teil einer stolzen Tradition.
    Der Hedwigsbecher aus dem Britischen Museum – einer von ungefähr einem Dutzend auffallend ähnlicher Glasbecher, die von den Gläubigen als Hedwigs Trinkgefäße identifiziert wurden – gleicht in Wirklichkeit eher einer kleinen Vase als einem Trinkgefäß. Er ist ungefähr 14 Zentimeter hoch und besteht aus dickem Glas von der Farbe eines Rauchtopas. Sie brauchen beide Hände, wenn Sie es umfassen wollen, und es ist gar nicht leicht, daraus zu trinken. Wenn ich es mit Wasser fülle und versuche, einen kräftigen Schluck zu nehmen, verschütteich etwas, weil der Rand so breit ist. Und bedauerlicherweise verwandelt sich das Wasser nicht in Wein.
    Andererseits darf es durchaus als Wunder gelten, dass etwa ein Dutzend empfind licher, fragiler Glasobjekte wie diese die Jahrhunderte unversehrt überstanden haben. Offenbar wurden sie sorgfältig gehegt, und wir wissen, dass viele von ihnen in fürstlichen Sammlungen und in Kirchenschätzen aufbewahrt wurden. So kann es sein, dass manche davon in Palastkapellen und Kirchen tatsächlich als Kelche in Gebrauch waren. Einige der erhaltenen Hedwigsbecher wurden für ihren Einsatz bei der heiligen Messe in edles Metall gefasst, und wenn Sie den Fuß und die Außenfläche unseres Bechers betrachten, dann können Sie sehen, dass auch er einmal mit Metall bestückt war.
    Bezeichnenderweise gehörte Hedwig zu einer neuen Sorte von Heiligen. Bei ihrer Kanonisierung im Jahre 1267 war die Zahl der weiblichen Heiligen so hoch wie nie zuvor in der Kirchengeschichte. Es war der Moment, in dem Frauen die unsichtbare Barriere zur Heiligkeit durchbrachen. Ein Viertel aller neuen Heiligen war weiblich. Das mag durchaus etwas mit der Wiederbelebung des Glaubens durch die neuen Predigerorden der Franziskaner und Dominikaner zu tun gehabt haben. Diese waren der Überzeugung, dass wahres christliches Leben nicht im Kloster, sondern unter den Menschen stattfinden sollte, und sie bestanden darauf, dass Frauen daran in vollem Maße Teil hatten. Deshalb ermutigten sie Frauen von königlichem Stand, gute Werke zu tun. Hedwigs Unterstützung der Leprakranken war also beispielhaft, und wir alle wissen durch Lady Dianas Einsatz für Aidskranke, wie einflussreich ein solches königliches Vorbild sein kann. Im Mittelalter stärkte die Kirche diese Vorbildfunktion, indem sie die Frauen nach ihrem Tod heiligsprach, und die Reihe von Namen kanonisierter Königinnen ist eindrucksvoll: St. Kunigunde, Kaiserin des Heiligen Römischen Reiches; St. Margarete, Prinzessin von Ungarn; St. Agnes, Prinzessin von Böhmen; und St. Hedwig, Herzogin von Schlesien. Ihnen allen wurden Wunder nachgesagt, aber nur Hedwig wurde das Wunder des Weines zugeschrieben.
    Als ein weiteres Zeichen religiöser Erneuerung riefen die Bettelmönche nicht nur zu guten Taten, sondern auch zum heiligen Krieg auf. So gehörten die Franziskaner und Dominikaner zu den einflussreichsten Befürwortern der Kreuzzüge. Als die Heilige Hedwig ihren Wein trank, waren die Kreuzzüge in vollemGange. Im Jahre 1217 nahm ihr Schwager, der König

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