Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
tatsächlich um einen Spiegel handelt …»
Der Spiegel von Ise ist in Wahrheit der Spiegel der großen japanischen Sonnengöttin Amaterasu. Am Beginn der Zeit, so die alte Überlieferung, befahl Amaterasu ihrem Enkelsohn, vom Himmel herabzusteigen und über Japan zu herrschen, und um ihn bei seiner Aufgabe zu unterstützen, gab sie ihm einen heiligen Spiegel, der ihm und seinen Nachfolgern ewigen Zugang zur göttlichen Sonne gewähren sollte. Bis zum heutigen Tag ist Amaterasus Spiegel Teil der Inthronisationszeremonien japanischer Kaiser.
Diese besondere Fähigkeit japanischer Spiegel, die Menschen mit ihren Göttern sprechen zu lassen, sicherte das Überleben unseres Spiegels, der dem Britischen Museum 1927, zusammen mit achtzehn weiteren, geschenkt wurde. Alle diese Spiegel sind aus Bronze hergestellt und alle haben die gleiche charakteristischematte Oberfläche. Aber erst 2009 war ein japanischer Wissenschaftler, der im Britischen Museum forschte, in der Lage, uns zu sagen, warum alle neunzehn Spiegel so aussehen. Und zwar deshalb, weil sie alle von demselben Ort stammen – alle wurden in einem heiligen Weiher nahe des Bergschreins von Hagurosan in Nordjapan gefunden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde dieser Weiher abgelassen, um eine Brücke für die Pilger zu bauen. Zum Erstaunen der Ingenieure fanden sich tief im Morast am Grund des Weihers etwa 600 Spiegel (darunter unsere), die im Laufe der Jahrhunderte dem Wasser übergeben worden waren. Der japanische Wissenschaftler, der uns besuchte, der Archäologe Harada Masayuki, schildert die Szenerie:
«Die Menschen begannen, zu diesem Berg zu pilgern, weil ihnen die Landschaft dort spirituell und heilig erschien und als Sitz für die Götter angemessen vorkam. Zum Beispiel hatte der weiße Schnee, der lange Zeit nicht schmilzt, eine spirituelle Bedeutung. So wurde der Weiher selbst zu einem Zentrum der Verehrung, denn die Menschen glaubten, dass darin ein Gott wohne. Die Japaner waren der Überzeugung, dass man, um wiedergeboren zu werden, in diesem Leben gute Taten vollbringen müsse. Im erweiterten Sinne führte möglicherweise diese Vorstellung dazu, dass solche fein gearbeiteten und teuren Spiegel geopfert und als Zeichen von Frömmigkeit einem buddhistischen Priester übergeben wurden. Auf diese Weise den Göttern gewidmet, sollten sie dafür sorgen, dass der Spender wieder in die Welt zurückkehren konnte.»
So können wir also fundierte Vermutungen über die ganze Lebensgeschichte unseres Spiegels anstellen. Er wurde in den hochentwickelten Bronzegießereien von Kyoto um 1100 für die erlesene Welt der höfischen Rituale und Vorführungen angefertigt, als ein unverzichtbares Accessoire, mit dem sich jede Dame und jeder Herr von Stand für einen ästhetisch angemessenen öffentlichen Auftritt auszustatten pflegte. Zu einem bestimmten Zeitpunkt entschied sich sein Besitzer, ihn nach einer langen Reise zum nördlichen Schrein der Obhut eines Priesters anzuvertrauen, und dort wurde er in den heiligen Weiher geworfen – das Bildnis seines Besitzers nahm er mit sich und überbrachte der anderen Welt seine Botschaft. Was weder der Besitzer noch der buddhistische Priester ahnen konnten, war, dass er eines Tages eine Botschaft für uns sein würde. Und wie der «Große Spiegel» selbst, erzählt er heute einem modernen Publikum die Geschichte des alten Japan.
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Buddhakopf von Borobudur
Steinkopf Buddhas, aus Java, Indonesien
780–840 n. Chr.
Wir bewegen uns auf den Spuren der großen Handelsrouten, die Asien, Europa und Afrika vor etwa tausend Jahren miteinander verbanden. Anhand dieses Buddha-Steinkopfs können wir ein komplexes Netzwerk von Beziehungen nachzeichnen, das sich über das Chinesische Meer und den Indischen Ozean hinweg erstreckte und über das die Völker Südostasiens Waren und Ideen, Sprachen und Religionen untereinander austauschten. Er stammt aus Borobudur auf der indonesischen Insel Java, nur wenige Breitengrade südlich des Äquators. Borobudur ist eines der weltweit bedeutendsten buddhistischen Bauwerke und eine der größten kulturellen Leistungen der Menschheit – eine riesige, rechteckige, terrassierte Pyramide, die, bestückt mit Hunderten von Buddhastatuen und besetzt mit über tausend Steinreliefs, die buddhistische Weltsicht vor Augen führt. Wenn Pilger auf ihr emporsteigen, beschreiten sie einen irdischen Weg, der eine spirituelle Reise widerspiegelt und die Wanderer symbolisch von dieser Welt auf eine höhere
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