Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
aufgelesene Fragmente und eine bescheidene Zahl hinduistischer und islamischer Kunstwerke; aber Raffles sammelte auch Objekte, die zu seinen Lebzeiten die Kultur Javas verkörperten. Er sammelte auf eine sehr spezielle Weise: Er hoffte, dass die Objekte selber für die indonesische Zivilisation sprechen und deutlich vor Augen führen würden, dass die Kultur Javas Teil einer großen südasiatischen Tradition war, die die Europäer als gleichbedeutend mit ihrer eigenen anerkennen sollten. Raffles strebte eine kulturelle Revolution an – eine weltgeschichtliche Sicht, deren Zentrum und höchste Stufe nicht die Mittelmeerländer waren.
Einer der heruntergefallenen Steinköpfe Buddhas, die Raffles in den Ruinen von Borobudur fand, steht in den Räumen der Asien-Abteilung des Museums, die Java gewidmet sind. Er ist nur wenig überlebensgroß und zeigt Buddha mit gesenkten Augenlidern in einem Zustand friedvoller innerlicher Einkehr. Sein Mund zeigt das klassische heitere Halblächeln, sein Haar ist dicht gelockt, und die verlängerten Ohrläppchen, ein Hinweis auf das jahrelange Tragen von schweren Goldohrringen, erzählen uns von seinem Leben als Prinz, bevor er die Erleuchtungerlangte. Das ruft uns sofort die ersten, etwa 500 Jahre früher in Nordwestindien entstandenen menschlichen Bildnisse Buddhas in Erinnerung, die in Kapitel 41 beschrieben wurden. Raffles kannte Indien sehr gut, und für ihn war klar, dass die Statuen von Borobudur – und tatsächlich ein großer Teil der Kultur Javas – durch die seit langem bestehenden Kontakte mit Indien starke Impulse erhalten hatten.
Borobudur mit seiner Fülle von Steinreliefs und Buddhastatuen.
Diese Kontakte waren schon über tausend Jahre vor der Errichtung von Borobudur gepflegt worden. Man dachte früher, dass Eroberungen und Emigration aus Indien diese Beziehungen nach sich zogen, aber heute betrachten wir sie als Teil eines großen Handelsnetzwerks, das sich über Land und Wasser erstreckte und unvermeidlich nicht nur Menschen und Waren, sondern auch Fertigkeiten, Ideen und Überzeugungen transportierte. Über dieses Netzwerk gelangte der Buddhismus nach Java und darüber hinaus entlang der Seidenstraße nach China, Korea und Japan und mit den Seefahrern über die südasiatischen Meere nach Sri Lanka und Indonesien. Aber der Buddhismus war nie ein ausschließlicher Glaube, und ungefähr zu der Zeit, als Borobudur entstand, wurden nicht weit entfernt große Hindutempel vergleichbaren Ausmaßes gebaut.
Um solche Monumente zu errichten, brauchte man Arbeitskräfte und Geld. Arbeitskräfte stellten in Java nie ein Problem dar – fruchtbar wie das Land war,brachte es stets eine riesige Bevölkerungszahl hervor –, und in den Jahren um 800 war die Insel ungemein reich. Neben ihrer Landwirtschaft war sie ein bedeutender Zwischenhafen für den internationalen Handel, insbesondere für Gewürze – vor allem Nelken –, die aus dem fernen Osten kamen. Von Java aus wurden diese Luxusgüter nach China und über den ganzen Indischen Ozean weiter verschifft.
Ein Relief in Borobudur, eine hervorragend gemeißelte Steinplatte mit einem Schiff etwa aus dem Jahr 800, ist der beste und anschaulichste Beweis für diese Art von Seehandelskontakten. Große Vitalität und Kunstfertigkeit kommen in diesem Relief zum Ausdruck, das mit viel Energie und nicht zuletzt Humor tief in den Stein gehauen wurde – ganz vorn unter der Galionsfigur sieht man einen Seemann, der sich grimmig am Anker festklammert. Aber vor allem können wir in Augenschein nehmen, welche Art von Schiff solch lange Seereisen überstand, ein Schiff nämlich, das mit mehreren Segeln und Masten für die langen Strecken von China und Vietnam nach Java, Sri Lanka, Indien und in der Tat bis nach Ostafrika gut ausgestattet war.
Vermutlich trifft das auf alle großen religiösen Bauten zu, aber als ich Borobudur besuchte, war ich besonders ergriffen von dem, was, wie ich denke, ein universales Paradox ist: Dass man enormen materiellen Wohlstand braucht, erworben durch intensiven Umgang mit weltlichen Dingen, um Bauwerke zu errichten, die uns dazu inspirieren, Besitztümer aufzugeben und die Welt hinter sich zu lassen. Der buddhistische Lehrer und Schriftsteller Stephen Batchelor bestätigt das:
«Borobudur war ein ganz grandioses Pendant zu einer dieser prächtigen gotischen Kathedralen Europas, und es dauerte vermutlich fünfundsiebzig bis hundert Jahre, um dieses Bauwerk zu errichten, ähnlich wie bei den
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