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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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verschieden und weit voneinander entfernt sie auch sein mögen, gehören einer großen Gemeinschaft an, einer Gemeinschaft, deren Reichweite und Komplexität wir anhand unserer zerbrochenen Tonscherben erahnen können. Die Handvoll, die ich ausgesucht habe, kann uns eine Menge erzählen. Das größte Stück hat etwa das Format einer Postkarte, das kleinste ist ungefähr halb so groß wie eine Kreditkarte. Die Teile können drei unterschiedlichen Gruppen zugeordnet werden. Es gibt einige glatte, blassgrüne Stücke, die wie teures modernes Porzellan aussehen; andere kleine Scherben sind blau gemustert; und eine dritte Gruppe besteht aus unglasiertem natürlichen Ton, der mit aufgesetzten Reliefmustern verziert wurde. Die Gefäße, deren Teil diese Fragmente einst waren, stammen aus ganz unterschiedlichen Regionen der Erde, aber ungefähr 600 bis 900 Jahre vor unserer Zeit wurden sie alle an einem Ort weggeworfen – an demselben Strand in Ostafrika. Sie wurden am Grund einer tiefen, zerklüfteten Klippe der Insel von Kilwa Kisiwani gefunden.
    Heute ist Kilwa eine ruhige Insel in Tansania mit einigen kleinen Fischerdörfern, aber um das Jahr 1200 befand sich dort eine blühende Hafenstadt. Die Ruinen ihrer mächtigen Steingebäude und der größten, südlich der Sahara gelegenen Moschee der Zeit sind noch immer zu sehen. Später, im Jahr 1502, beschrieb ein portugiesischer Besucher die Stadt, wie er sie damals vorfand:
    «Die Stadt reicht bis an die Küste hinunter und ist von einer Mauer und von Türmen umgeben, zwischen denen ungefähr 12.000 Einwohner leben. Die Straßen sind sehr eng, gesäumt von drei oder vier Stockwerke hohen Häusern, auf deren Dachterrassen man entlang gehen kann, da sie so eng beieinander stehen … und im Hafen liegen viele Schiffe.»
    Kilwa war die südlichste und wohlhabendste einer Reihe von kleineren und größeren Städten entlang der ostafrikanischen Küste, von Tansania aus nordwärts über Mombasa im heutigen Kenia bis ins somalische Mogadischu. Diese Gemeinden waren in ständiger Verbindung miteinander, an der Küste auf- und absegelnd, und sie mischten sich auch unter die Kaufleute, die über den Ozean gereist kamen.
    Der sichtbare Beweis für diesen regen Handelsverkehr – das zerbrochene Geschirr – enthält viele Informationen. Selbst mir ist völlig klar, dass es sich bei den blassgrünen Scherben um chinesisches Porzellan handelt, um Fragmente hübscher luxuriöser Schalen oder Krüge – Seladonwaren, die die Chinesen in industriellen Mengen herstellten und nicht nur nach Südostasien, sondern über den Indischen Ozean in den Mittleren Osten und nach Afrika exportierten. Der tansanische Schriftsteller Abdulrazak Gurnah erinnert sich an seine eigene Scherbe von chinesischem Porzellan, die er als Kind am Strand fand:
    «Wir sahen diese Dinge, diese Keramikstückchen an den Stränden. Und manchmal sagten die älteren Leute zu uns: ‹Das ist chinesische Keramik›. Und wir dachten: ‹Ja, ja›; wir hörten viele Geschichten über solche Dinge – fliegende Teppiche, verschollene Prinzen, etc. – so hielten wir das einfach für eines dieser Märchen. Erst später, wenn man damit anfängt, Museen zu besuchen oder die altbekannten Geschichten von den großen chinesischen Armadas, die nach Ostafrika segelten, hört, dann verwandelt sich das Objekt in etwas Wertvolles, es wird ein Hinweis auf Wichtigeres – ein Bindeglied. Und dann erst erkennt man das Objekt selbst in seiner Vollkommenheit, seiner Bedeutung und Schönheit, und dann führt es diese Präsenz einer entlegenen Kultur wie China unabweisbar vor Augen.»
    Vergleichbar mit dem chinesischen Porzellan, haben wir hier auch andere Keramikfragmente, die ganz sicher eine lange Reise zurückgelegt haben, bevor sie schließlich nach Kilwa gelangten. Eine blaue Scherbe mit schwarzen geometrischen Mustern stammt offensichtlich aus der arabischen Welt; wenn man dieses Fragment unter dem Mikroskop betrachtet, kann man aus der Zusammensetzungder Tonerde schließen, dass es im Irak oder in Syrien hergestellt wurde. Weitere Scherben stammen aus Oman oder aus anderen Teilen des Golfs. Allein anhand dieser Fragmente könnte man zeigen, wie weitreichend und tragfähig Kilwas Beziehungen zum islamischen Mittleren Osten waren.
    Die Menschen in Kilwa liebten fremdländische Töpferwaren. Sie benutzten sie zu den Mahlzeiten, und sie schmückten ihre Häuser und Moscheen mit Schalen und Krügen, die in Wandnischen, überwölbt von Bögen,

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