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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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Kathedralen hier in Europa. Und so ist es ein großartiges Symbol der buddhistischen Welt, der buddhistischen Vision, und es ist auf einer bestimmten Ebene eine intellektuelle Übung, aber weil es auf eine so brutale Weise materiell und greifbar ist, ist es mehr als das. Es verkörpert etwas, das über die reine Metaphysik oder religiöse Glaubenssätze hinausgeht, etwas Lebendiges, das vor Augen führt, was der menschliche Geist zu leisten im Stande ist.»
    Es ist eine ergreifende Erfahrung, die Terrassen von Borobudur hinaufzusteigen. Wenn man von den umschlossenen Gängen der unteren Terrassen zu den freienoberen Ebenen gelangt und ringsum auf die Vulkane blickt, dann stellt sich ganz klar das Gefühl ein, die physischen Zwänge hinter sich gelassen zu haben und in einer höheren Welt angekommen zu sein. Selbst der hartgesottenste Tourist merkt, dass er nicht einfach ein Ausflugsziel besichtigt, sondern einen Pilgerweg beschreitet. Die Erbauer von Borobudur wussten nur zu gut, wie Stein die Gedanken formen kann.
    Relief eines Schiffes aus Borobudur.
    Als ich die drei kreisförmigen Terrassen ganz oben erreichte, bemerkte ich, dass die lehrreiche Begleitung endete. Dort oben gibt es keine Reliefs mehr, die Geschichten erzählen, nur glockenförmige Stupas, von denen jede einen sitzenden Buddha beherbergt. Wir haben die illusorische Welt der darzustellenden Wirklichkeit hinter und unter uns gelassen; dies ist die Welt der Gestaltlosigkeit. Am höchsten Punkt von Borobudur befindet sich eine gewaltige glockenförmige Stupa. In ihr befindet sich nichts, es herrscht Leere – das ultimative Ziel dieser spirituellen Reise.



60
Tonscherben aus Kilwa
    Keramikfragmente, gefunden an einem Strand bei
Kilwa Kisiwani, Tansania
900–1400 n. Chr.
    Es ist erstaunlich, was uns einige zerbrochene Krüge und Teller alles erzählen können. Dieses Kapitel handelt von Töpferwaren – aber es geht nicht um die hohe Keramikkunst, die für gewöhnlich nur in Schatzkammern oder in antiken Gräbern die Zeiten überdauern konnte; es geht um das im alltäglichen Leben benutzte Geschirr, das, wie man sich denken kann, nur in Fragmenten erhalten ist. Es ist offensichtlich, dass ein Teller oder eine Vase als Ganzes erschreckend zerbrechlich ist; gehen solche Töpferwaren aber einmal zu Bruch, so sind die einzelnen Teile nahezu unzerstörbar. Tonscherben haben uns mehr über das tägliche Leben vergangener Zeiten verraten als vieles andere.
    Abgebildet ist hier eine Handvoll Fragmente, die etwa tausend Jahre lang an einem Strand von Ostafrika überlebt haben. Ein aufmerksamer Strandgutsammler las sie 1948 auf und bot sie 1974 dem Britischen Museum an, als ihm klar wurde, dass sich durch diese zerbrochenen, finanziell völlig wertlosen Reste nicht nur das Leben Ostafrikas vor einem Jahrtausend, sondern darüber hinaus die ganze Welt des Indischen Ozeans erschließen würde.
    Durch viele historische Epochen hindurch wurde die Geschichte selbst nur landgebunden betrachtet. Die meisten von uns neigen dazu, in Gedanken nach Orten und Städten, Bergen und Flüssen, Kontinenten und Ländern zu trennen. Aber wenn wir aufhören, zum Beispiel über die asiatische Landmasse oder die indische Geschichte nachzudenken, und stattdessen die Ozeane in den Vordergrund rücken, dann erhalten wir eine vollkommen andere Perspektive auf unsere Vergangenheit. In früheren Kapiteln habe ich gezeigt, wie Ideen, Überzeugungen,Religionen und Menschen zwischen dem 9. und dem 14. Jahrhundert entlang der großen Handelsrouten durch Europa und Asien reisten; aber die Handelsrouten erstreckten sich auch über die offene See und führten kreuz und quer über den Indischen Ozean. Afrika und Indonesien liegen fast 5000 Meilen voneinander entfernt, und doch können sie, dank der Winde des Indischen Ozeans, die während einer Hälfte des Jahres brav in nordöstlicher Richtung und während der anderen in südwestlicher Richtung wehen, leicht miteinander und überdies mit dem Nahen und Mittleren Osten, mit Indien und China in Verbindung treten. Das bedeutet, dass Kaufleute über weite Strecken fortsegeln können, in dem Wissen, dass ihnen auch der Rückweg möglich ist. Handelnde Seefahrer haben diese Meere jahrtausendelang überquert, und sie transportierten nicht nur Warenladungen, sondern auch Pflanzen, Tiere, Menschen, Sprachen und Religionen. Es ist kein Zufall, dass die Einwohner von Madagaskar eine indonesische Sprache sprechen. Die Küsten des Indischen Ozeans, so

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