Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
zählen heute zu den berühmtesten Skulpturen der Welt. Unser steinerner Riese ist einer von ihnen. Sein Name ist Hoa-haka-nana-ia – was frei übersetzt wurde als «verborgener Freund». Er wurde 1869 nach London gebracht und gehört seither zu den am meisten bewunderten Bewohnern des Britischen Museums.
In der Geschichte der Menschheit haben Gesellschaften stets viel Zeit und Mühe aufgewendet, um sich die Götter gewogen zu machen, aber nur wenige Kulturen haben dies in einem so heroischen Maße betrieben wie die Bewohner von Rapa Nui. Obwohl die Bevölkerung wohl niemals mehr als 15.000 Mitglieder zählte, haben es die Menschen auf dieser winzigen Insel geschafft, innerhalb weniger Jahrhunderte den Stein für mehr als tausend kolossale Skulpturen zu brechen, zu behauen und aufzurichten. Darunter auch Hoa-haka-nana-ia. Er wurde vermutlich um das Jahr 1200 geschaffen und war mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu bestimmt, den Geist eines Ahnen zu beherbergen: ein steinernes Wesen, das vielleicht von Zeit zu Zeit von einem Vorfahren besucht und bewohnt wird.
Wer vor ihm steht, ist sich augenblicklich des massiven Basaltsteins bewusst, aus dem er gemacht ist. Obwohl wir ihn nur von der Hüfte aufwärts sehen, ragt er 2,7 Meter hoch auf und beherrscht jeden Raum, in dem er sich befindet. Wenn man ein so hartes Gestein wie dieses bearbeitet und nur steinerne Werkzeuge besitzt, um den Stein zu behauen, kann man keine Feinheiten herausmeißeln. Darum ist alles an diesem Koloss groß – und trutzig. Der wuchtige rechteckige Kopf ist riesig, fast so breit wie der Torso, auf dem er sitzt. Die schweren Brauen bilden eine gerade Linie, die quer über die gesamte Breite der Stirn verläuft. Darunter liegen tiefe Augenhöhlen und eine gerade Nase mit geblähten Nüstern. Die kantigen Kinnbacken sind forsch vorgeschoben, der Mund ist zu einem starken Ausdruck schmallippiger Missbilligung geschürzt. Im Vergleich zum Kopf ist der Torso nur grob umrissen. Die Arme sind kaum ausgearbeitet, die Hände verschwinden in der steinernen Wölbung einer gerundeten Wampe. Einzig die Brustwarzen sind deutlich herausmodelliert.
Hoa-haka-nana-ia ist eine ungewöhnliche Mischung aus physischer Masse und suggestiver Kraft. Für den Bildhauer Anthony Caro ist dies das eigentliche Wesen der Skulpturenkunst:
«Ich sehe die Skulpturenkunst, das Bearbeiten eines Steins, als eine elementare menschliche Tätigkeit. Man erforscht diesen Stein mit einer Art emotionaler Kraft, einer Art geistiger Präsenz. Diese Form der Bildhauerei ist eine religiöse Handlung. Die Skulptur von der Osterinsel schafft es, das Wesentliche einer Person wiederzugeben. Jeder Bildhauer seit Rodin hat sich an der primitiven Skulpturenkunst orientiert, weil hier alles Überflüssige weggelassen ist. Alles,was geblieben ist, unterstreicht die Kraft des Steins. Wir sind auf das Wesentliche reduziert; Größe, Einfachheit, Monumentalität und Verortung – das sind die Dinge, auf die es ankommt.»
Die Statuen wurden auf eigens zu diesem Zweck entlang der Küstenlinie angelegten Plattformen aufgestellt – eine religiöse Geographie, in der sich die Sippenstrukturen der Inselbevölkerung spiegelten. Um diese Statuen zu bewegen, müssen sehr viele Menschen tagelang geschuftet haben. Hoa-haka-nana-ia stand hier mit dem Rücken zum Meer in Reih und Glied mit seinen großen steinernen Gefährten, und gemeinsam wachten sie über die Insel. Diese ehernen Ahnenfiguren müssen für potenzielle Eindringlinge einen gespenstischen – und abschreckenden – Anblick geboten und ein angemessen eindrucksvolles Empfangskomitee für den Besuch eines jeden Würdenträgers gebildet haben. Ihnen wurde darüber hinaus ein ganzes Sammelsurium an Wunderkräften zugeschrieben. Der Anthropologe und Kunsthistoriker Steven Hooper erklärt:
«Es war für die Lebenden eine Möglichkeit, mit den Verstorbenen, die eine wichtige Rolle im Leben der Menschen spielen, Kontakt aufzunehmen und sich mit ihnen auszutauschen. Vorfahren können Einfluss nehmen auf Fruchtbarkeit, Wohlstand und Überfluss. Sie sind monumental. Die Statue im Britischen Museum ist relativ klein – in einem der Steinbrüche der Osterinsel wurde ein unvollendetes Exemplar gefunden, das 21 Meter misst. Wie sie diesen Koloss hätten aufrichten wollen, weiß der Himmel! Mich erinnert das an den Bau mittelalterlicher Kathedralen in Kontinentaleuropa und in England, eindrucksvolle und aufwendige Konstruktionen, die mit großem
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