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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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architektonischem Können und einem ungeheuren Aufwand an Arbeitskraft und Zeit errichtet wurden. Fast könnte man meinen, dass diese Riesenskulpturen, die an den Hängen der Osterinsel verstreut stehen, die polynesische Entsprechung unserer mittelalterlichen Kathedralen sind. Sie werden nicht wirklich alle gebraucht, und sie sagen nicht nur etwas über die Frömmigkeit der Menschen aus, sondern auch über gesellschaftliches und politisches Machtstreben.»
    Da gab es also eine dicht besiedelte, gesellschaftlich gut strukturierte Insel, auf der Religion in einer durchorganisierten, auf dem Wettbewerbsprinzip beruhenden Form ausgeübt wurde. Dann wurde die Skulpturenproduktion um 1600 offenbar ganz plötzlich eingestellt. Und niemand kann mit Bestimmtheit sagen, warum.Natürlich ist eine so kleine und isolierte Insel ein fragiles Ökosystem, und auf der Osterinsel war dieses längst aus dem Gleichgewicht geraten. Die Inselbewohner hatten nach und nach fast den gesamten Baumbestand geschlagen und so intensiv Jagd auf Landvögel gemacht, dass diese vom Aussterben bedroht waren. Die Seevögel, allen voran die Rußseeschwalben, suchten das Weite und richteten ihre Nistplätze auf sichereren Meeresklippen und Inseln ein. Es war, als hätten die Götter der Insel ihre Gunst entzogen.
    Rückenansicht von Hoa-haka-nana-ia mit Vogelmannsymbolen im Flachrelief.
    Waren die Menschen in Konstantinopel einer Krise begegnet, indem sie sich auf einen religiösen Brauch vergangener Tage besannen, so erfanden die Bewohner von Rapa Nui einfach einen neuen in der Form eines Rituals, bei dem sich, wen wundert es, alles um die knappen Ressourcen drehte. Im Mittelpunkt des Vogelmannkults, wie er genannt wurde, stand ein alljährlicher Wettbewerb, in dem das erste Ei der abgewanderten Rußseeschwalbe von einer vorgelagerten Felseninsel geholt werden musste. Der Mann, der das Kunststück fertigbrachte, schwimmend und über schroffe Felsen kletternd ein Ei unversehrt nach Hause zu bringen, wurde für die Dauer eines Jahres zum Vogelmann erklärt. Er lebte, mit göttlicher Kraft ausgestattet, in vollkommener Isolation, ließ sich die Nägel wachsen wie Vogelklauen und schwang zum Zeichen seines hohen Standes ein Zeremonienpaddel. Erstaunlicherweise können wir die Geschichte der Veränderungen in den religiösen Bräuchen anhand unserer Skulptur erzählen. Denn Hoa-haka-nana-ia wurde nicht wie die anderen Statuen einfach links liegen gelassen, sondern man bezog ihn in den Vogelmannkult ein und brachte ihn von seinem ursprünglichen Standort in ein Haus, wo er in einen neuen Lebensabschnitt eintrat.
    Unsere Statue enthält, eingraviert auf ihrem Rücken, alle Schlüsselelemente dieses späteren Kults. Die Gravuren müssen Jahrhunderte nach der Entstehung der Statue hinzugefügt worden sein, und ihr Stil könnte sich kaum deutlicher von der Gestaltung der Vorderseite unterscheiden. Sie sind relativ kleinformatig im Flachrelief ausgearbeitet, und der Bildhauer hat sich bemüht, ein möglichst breites Spektrum unterschiedlicher Details unterzubringen. Beide Schulterblätter sind zu Symbolen des Vogelmanns geworden: Fregattvögel mit mensch lichen Händen, deren Schnäbel sich im Nacken der Statue berühren. Den Hinterkopf zieren zwei stilisierte Paddel; ihre nach oben gerichteten Blätter sehen aus wieMiniaturausgaben des Gesichts unserer Statue. Zwischen den Paddeln steht ein Vogel, bei dem es sich vermutlich um eine Rußseeschwalbe handelt, deren Eier im Vogelmannkult eine so entscheidende Rolle gespielt haben. Das Relief kann als solches nie besonders gut erkennbar gewesen sein. Wir wissen jedoch, dass der Rücken der Statue mit leuchtenden Farben bemalt war, so dass man das Konglomerat starker Symbole mühelos erkennen und verstehen konnte. Ohne die Farben, wie es sich heute präsentiert, wirkt das Figurenrelief in meinen Augen irgendwie klein, betulich, kraftlos – wie ein ängstlich verhuschter Abklatsch der vor Kraft und Selbstvertrauen strotzenden Vorderseite der Statue.
    Es passiert nicht oft, dass man ökologische Veränderungen in Stein dokumentiert sieht. Dieser Dialog zwischen den beiden Seiten des Hoa-haka-nana-ia hat etwas Ergreifendes, er ist wie eine in Stein gehauene Mahnung, die uns sagt, dass keine Art zu leben und zu denken bis in alle Ewigkeit Bestand hat. Das Gesicht unseres steinernen Riesen erzählt von unser aller Sehnsucht nach unveränderlicher Gewissheit; sein Rücken von den sich ändernden Zweckmäßigkeiten, die

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