Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
immer zur Wirklichkeit des Lebens gehört haben. Er ist Jedermann.
Und Jedermann ist im Allgemeinen ein Überlebenskünstler. Die Bewohner der Osterinsel scheinen sich den Veränderungen ihrer Umwelt einigermaßen mühelos angepasst zu haben, eine Fähigkeit, über die Polynesier eigentlich immer verfügen mussten. Doch im 19. Jahrhundert sahen sie sich mit Problemen ganz anderer Art konfrontiert – von weit her über das Meer kamen Sklaverei, Krankheiten und Christentum zu ihnen. Als das britische Dampfschiff HMS Topaze 1868 die Insel anlief, traf die Besatzung dort nur noch ein paar Hundert Bewohner an. Die mittlerweile getauften Stammesführer führten die Schiffsoffiziere zu Hoa-haka-nana-ia. Es ist nicht bekannt, warum sie ihn nicht mehr auf der Insel haben wollten, aber vielleicht empfanden sie die alte Ahnenfigur als Bedrohung für den neuen christlichen Glauben. Ein Trupp von Inselbewohnern schleppte ihn zum Schiff, und man brachte ihn nach England, um ihn Königin Viktoria zu präsentieren. Anschließend fand er im Britischen Museum eine neue Heimat. Er blickt in südöstliche Richtung, hin zur 14.000 Kilometer entfernten Insel Rapa Nui.
Hoa-haka-nana-ia steht heute in dem Saal, der den Dingen des Lebens und des Sterbens gewidmet ist, im Kreise von Objekten, die zeigen, wie andereGesellschaften des Pazifiks und des amerikanischen Doppelkontinents mit den Unbilden, die das Leben überall für die Menschen bereithält, umgegangen sind. Er verkörpert auf unvergleichlich kraftvolle Art die Bemühung aller Gesellschaften, sich ihre veränderliche Welt begreiflich zu machen und darin zu überleben. Im Jahr 1400 kannte man in Europa keine der in diesem Saal vertretenen Kulturen. Doch das sollte sich ändern. In den noch folgenden Teilen der Geschichte werden wir uns ansehen, wie es dazu kam, dass diese verschiedenen Welten – selbst so abgelegene Inseln wie Rapa Nui – schließlich zu integralen Bestandteilen eines globalen Systems wurden, ob sie nun wollten oder nicht. Diese Geschichte ist uns in vieler Hinsicht vertraut, doch Objekten wohnt die Kraft inne, Interesse zu wecken, Überraschendes zutage zu bringen und Erkenntnisse zu vermitteln.
Teil XV
An der Schwelle zur modernen Welt
1375–1550 n. Chr.
Über Jahrtausende hatten
Objekte zu Land und Wasser riesige
Entfernungen durchreist. Trotz dieser
Verbindungen bestand die Welt vor 1500 im
Grunde noch immer aus einer Reihe einzelner
Netzwerke. Niemand hatte eine globale Übersicht,
weil niemand je die ganze Welt umrundet hatte.
Diese Kapitel handeln von den großen Weltreichen an
jenem Vorabend der Moderne, als es für eine Person
noch immer undenkbar war, sie alle zu bereisen,
und auch die Supermächte nur auf ihre eigenen
Gebiete wirklichen Einfluss hatten.
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Die Tughra von Suleiman dem Prächtigen
Kalligraphie, aus Konstantinopel (Istanbul), Türkei
1520–1566 n. Chr.
Zwischen etwa 1350 und 1550 waren große Teile der Welt von den Supermächten der Zeit besetzt – von den Inka in Südamerika, der Ming-Dynastie in China, den Timuriden in Zentralasien und dem mächtigen Osmanischen Reich, das sich über drei Kontinente ausdehnte und von Algier bis zum Kaspischen Meer, von Budapest bis nach Mekka reichte. Zwei dieser mächtigen Reiche hatten über Jahrhunderte Bestand; die anderen beiden zerfielen innerhalb weniger Generationen. Jene, die überdauerten, behaupteten sich nicht allein mit dem Schwert, sondern auch mit der Feder – was bedeutete, dass sie vitale und erfolgreiche Bürokratien hatten, die sie in harten Zeiten stützen und über unfähige Herrscher hinwegretten konnten. Der Papiertiger ist paradoxerweise derjenige, der überlebt. Die überdauernde Macht, von der dieses Kapitel handelt, ist das große islamische Osmanische Reich, das um 1500 Konstantinopel erobert hatte, und das sich mit Zuversicht, gewonnen durch gesicherte Grenzen und wachsende Stärke, von einer militärischen zu einer administrativen Macht herausbildete. Die Osmanen machten es vor: In der modernen Welt bedeutet Papier Macht.
Und was für ein Stück Papier dies ist. Es ist eine sehr schön gemalte Zeichnung – es ist das Signet eines Staates, ein Stempel der Macht und ein Werk von höchster Kunstfertigkeit. Es wird Tughra genannt. Diese Tughra wurde auf schwerem Papier mit satten Linien von blauer Kobalttinte gezeichnet, die etwas umschließen, was einer zarten Wiese farbenprächtiger goldener Blumen gleicht. Zur Linken besteht sie aus einer schwungvollen,
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