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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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sondern als heiteres Liebespaar betrachtet und dass körperliche Liebe nicht Ausdruck mensch licher Sündhaftigkeit, sondern ein wesentlicher Teil des Göttlichen ist.

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Göttinnenskulptur der Huaxteken
    Steinstatue, aus Mexiko
900–1521 n. Chr.
    Einer alten Redensart zufolge ist jede Übersetzung unweigerlich eine Fälschung. Wenn es darum geht, komplexe Ideen aus einer erloschenen, schriftlosen Kultur zu übertragen, ist es nicht einfacher: Normalerweise müssen wir uns durch mehrere Schichten späterer Interpretationen von Menschen hindurcharbeiten, die vollkommen anders dachten und deren Sprache keine Worte kannte, mit denen sie fremde Gedanken hätten ausdrücken können.
    Um dieses Objekt auch nur annähernd in seiner ursprünglichen Bedeutung zu erfassen, müssen wir uns auf Informationen stützen, die durch zwei spätere Kulturen mit zwei unterschiedlichen Sprachen gefiltert sind, und dann wissen wir immer noch nicht genau, wo wir eigentlich stehen. Dieses Objekt hat mich schon immer fasziniert, und ich bin immer weniger sicher, ob ich es wirklich verstehe. Es ist die Statue einer Frau aus dem heutigen Norden von Mexiko, wo um 1400 das Volk der Huaxteken gelebt hat.
    Die Geschichte der Azteken und der Vernichtung ihres großen Reiches durch die Spanier in den 1520er Jahren ist weithin bekannt. Viel weniger wissen wir dagegen über die Völker, die die Azteken selbst unterworfen hatten, um ihr Reich aufzubauen. Eines der interessantesten dieser Völker waren die nördlichen Nachbarn der Azteken, die Huaxteken. Wir wissen, dass sie in der nördlichen Golfzone von Mexiko in der Gegend des heutigen Veracruz lebten und zwischen dem 10. und dem 15. Jahrhundert eine blühende Städtekultur hatten. Um 1400 jedoch wurde diese prosperierende Welt durch das kriegerische Volk der Azteken, deren Reich im Süden angrenzte, bis in die Grundfesten erschüttert und die Herrscherschicht der Huaxteken praktisch ausgelöscht. Heute sind nur noch wenige Spuren zu finden, mit deren Hilfe wirdie Welt und das Denken der Huaxteken rekonstruieren könnten: Die Huaxteken haben nichts Schriftliches hinterlassen, und die einzigen schriftlichen Zeugnisse, die uns zur Verfügung stehen, sind Aufzeichnungen der Azteken über das Volk, das sie unterworfen hatten, übermittelt wiederum durch die Spanier, nachdem diese ihrerseits die Azteken unterjocht hatten. Wenn wir also die Huaxteken direkt zu uns sprechen lassen wollen, müssen wir uns den Objekten zuwenden, die sie hinterlassen haben. Dies sind die einzigen Dokumente ihrer Welt, und am aussagekräftigsten unter ihnen sind einige Gruppen unverwechselbarer Steinskulpturen.

    Diese Statue einer Huaxtekenfrau in der Mexiko-Abteilung des Britischen Museums hält den Vorsitz innerhalb einer Dreiergruppe – drei Schwestern, alle im gleichen Stil in Sandstein gehauen. Unsere Statue ist etwa eineinhalb Meter hoch, also in etwa lebensgroß, aber sie ist alles andere als lebensecht. Sie sieht aus, als wäre sie mit einem Riesenförmchen ausgestochen – ihre Konturen sind gerade und kantig, der Körper flach und glatt – man könnte sie für eine gigantische Lebkuchenfrau halten. Wenn man sie von der Seite betrachtet, sieht man, dass sie aus einer sehr dünnen Sandsteinplatte gehauen ist. Tatsächlich ist sie aus der Seitenansicht weniger als zehn Zentimeter breit. Ihre Hände sind über dem Bauch gefaltet, die Arme hält sie vom Körper abgewinkelt, so dass sie zwei Dreiecke bilden. Tatsächlich besteht sie einfach aus einer Reihe geometrischer Figuren. Ihre Brüste sind perfekte Halbkugeln, und unterhalb der Taille trägt sie einen trapezförmigen Rock, der gerade und schnörkellos bis zum Sockel hinunter reicht. Diese Dame, ganz schroffe Linien und Kanten, ist sicher niemand, mit dem man sich gern anlegen würde. Dennoch gibt es zwei Dinge, die sie menschlicher erscheinen lassen: Ihr kleiner Kopf wirkt überraschend lebendig – sie scheint seitlich nach oben auf etwas Bestimmtes zu blicken –, und ihr Mund ist geöffnet, fast so, als würde sie gerade sprechen. Ihr gesamter Körper weist nur ein einziges Oberflächendetail auf: in Stein gemeißelte schlaffe Haut in Form gerundeter Linien unterhalb der Brüste, sicher ein Zeichen für reiferes Alter, vielleicht sogar für eine vorangegangene Schwangerschaft, woraus oft geschlossen wird, dass es sich um eine Muttergöttin handeln könnte.
    Wir wissen praktisch nichts über die Muttergöttin der Huaxteken, wohl aber wissen wir, dass sie

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