Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
für die aztekischen Eroberer das gleiche Wesen war wie ihre eigene Göttin Tlazolteotl. Man könnte meinen, dass die Berufsbeschreibungaller Muttergöttinnen relativ klar umrissen ist – Fruchtbarkeit zu gewährleisten und die Menschen sicher ins Erwachsenenalter zu geleiten –, aber so einfach ist die Sache meistens nicht, wie die Kulturhistorikerin Marina Warner erläutert:
«Es ist wichtig zu sehen, dass nicht alle Muttergöttinnen gleich sind. Oft werden sie mit dem Frühling, mit dem Wachstum der Pflanzen, also dieser Art von Fruchtbarkeit, assoziiert – nicht nur mit der Fruchtbarkeit der Menschen und Tiere. Dort allerdings betritt man im Fruchtbarkeitskontext ein außerordentlich gefährliches Terrain, weil die Geburt immer auch das Leben der Mütter oder der Kinder bedroht. Dieser Aspekt zieht sich bis in die jüngste Vergangenheit als Konstante durch die Geschichte der Menschheit. Und die Berührung mit der Gefahr der Reproduktion bringt uns in die Nähe von Schmutz und Unreinheit, eine Sicht, die besonders im Christentum sehr tief verwurzelt ist. ‹Zwischen Fäkalien und Urin wurden wir geboren›, hat Augustinus einmal gesagt, der sich überhaupt schwere Sorgen um den animalischen Aspekt des Geburtsvorgangs machte. Muttergöttinnen sollen uns Menschen im Allgemeinen helfen, uns dieser Angst vor der Verunreinigung, vor der Verbindung zwischen Geburt und Tod, zu stellen.»
Bei der Geburt und in der frühesten Kindheit geht es niemals steril zu, im Gegenteil. Um ein Mindestmaß an Hygiene zu erreichen, muss man Systeme zur Bewältigung des Schmutzes entwickeln – und Muttergöttinnen haben Schmutz im kosmischen Maßstab zu bewältigen.
Insofern kann es nicht verwundern, dass der Name Tlazolteotl als «Schmutzfresserin» in die aztekische Sprache übersetzt wurde. Sie repräsentierte Fruchtbarkeit, Pflanzenwachstum und Erneuerung, sie war die ultimative grüne Göttin, die organische Abfälle und Exkremente in blühendes neues Leben verwandelte und so den ewigen Kreislauf der Natur gewährleistete. Sie ist eine Göttin, die sich die Hände schmutzig macht – und der aztekischen Mythologie zufolge nicht nur die: Sie isst Schmutz und reinigt ihn. Wenn wir unsere Göttin also so betrachten wie die Azteken, könnte dies der Grund sein, warum ihr Mund offen steht und ihre Augen nach oben verdreht sind, auch wenn das vielleicht eine unangenehme Vorstellung ist.
Das, was Tlazolteotl dem Glauben nach wirklich tat, wenn sie Schmutz aß, damit die Menschen wieder in Tugend leben konnten, tat sie auch im übertragenen Sinne. Sie war, wie die Azteken den Spaniern erklärten, die Göttin, der sexuelle Verfehlungen gebeichtet wurden.
«Man trug ihr alle Eitelkeiten vor; man breitete alle unreinen Taten vor ihr aus, so hässlich und verwerflich sie auch sein mochten … Alles wurde vor ihr ausgebreitet, nichts wurde verschwiegen.»
Der spanische Missionar Bernardino de Sahagún sah darin eine verblüffende Übereinstimmung mit der christlichen Einstellung zu Unkeuschheit und Beichte. Man muss sich fragen, inwieweit die Spanier aztekische und demzufolge auch huaxtekische Göttinnen an ihren eigenen Glaubensvorstellungen und vor allem an ihrem Bild von Maria maßen. Doch die Marienfigur der Christen war über alles Geschlechtliche erhaben, und so fanden die Spanier die Tatsache, dass Tlazolteotl ihrem Wesen nach mit etwas in ihren Augen so Schmutzigem assoziiert war, irgendwie beunruhigend. Sahagún beklagt, dass die Göttin auch die «Herrin der Unzucht und der sexuellen Ausschweifungen» sei, und die Azteken ihrerseits schmähten ihre huaxtekischen Untergebenen als unverbesserliche Lüstlinge.
Die Bedeutung unserer Statue erschließt sich nicht leicht, und es gibt Wissenschaftler, die bezweifeln, dass es sich bei ihr überhaupt um eine Göttin handelt. Was sonst können wir aus dem äußeren Erscheinungsbild der Statue schließen?
Das Auffälligste an ihr ist ein riesiger fächerförmiger Kopfputz, fast zehnmal so groß wie ihr Kopf. Obwohl ein Teil davon abgebrochen ist, sieht man, dass er sich, genau wie der Rest der Figur, aus geometrischen Formen zusammensetzt. In der Mitte ruht direkt auf dem Kopf eine rechteckige Platte; darüber ragt ein schmuckloser Kegel auf. Gerahmt ist das Ganze von einem Halbkranz aus Strahlen, die aussehen wie steinerne Straußenfedern. Es könnten Federn oder auch Rindenhölzer sein, aber der ursprüngliche Farbanstrich, der es uns verraten hätte, ist längst verschwunden. Ein
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