Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
Kopfputz wie dieser muss ein eindeutiger Hinweis auf die Identität dieser Figur gewesen sein. Nur ist es leider ein Hinweis, den wir heute nicht mehr mit Sicherheit entziffern können.
Kim Richter, die sich eingehend mit der Kultur der Huaxteken befasst hat, hält eine weltlichere Interpretation der Skulptur bereit:
«Ich bin der Ansicht, dass die Statuen die huaxtekische Oberschicht abbilden, für die, ebenso wie für den gesamten Adel Mittelamerikas, solche extravaganten Kleidungselemente typisch waren. Ich konnte eine Verbindung zwischen dem Kopfschmuck der Huaxteken und ähnlich gearteten Funden in anderen Regionen feststellen.
Es entsprach vermutlich der damaligen Mode, war aber auch sehr viel mehr … es ist beispielsweise durchaus mit einem Gucci-Täschchen von heute zu vergleichen. Überall in der Welt sieht man reiche Leute damit herumlaufen – es ist ein Statussymbol, es steht für die Verbindung, die heute zwischen diesen verschiedenen Regionen der Welt besteht, und dieser Kopfschmuck hatte eine sehr ähnliche Funktion. Er zeigte dem eigenen Volk, dass man dieser größeren mesoamerikanischen Kultur angehörte.»
Vielleicht sind die Statuen wirklich nichts anderes als Darstellungen einer regionalen Oberschicht, aber mir fällt es schwer zu glauben, dass diese geometrischen weiblichen Figuren ritualisierte Familienporträts adeliger Frauen sein sollten. Wir wissen, dass solche Skulpturengruppen hoch über den Gemeinden auf künstlich angelegten Hügeln standen, wo sich die Menschen zu feierlichen Handlungen und Prozessionen versammeln konnten, aber über unsere spezielle Statue können wir eigentlich kaum etwas mit Sicherheit sagen. Und bedauerlicherweise gibt es niemanden, der uns aufklären könnte. Kim Richter erklärt:
«Ich glaube nicht, dass die Skulpturen für die Bewohner der Region heute noch eine große Bedeutung haben. Als ich dort arbeitete und mich mit indigenen Leuten unterhielt, waren sie durchaus interessiert und neugierig und wollten mehr über die Skulpturen erfahren, aber sie wussten überhaupt nichts darüber. Ich hörte einen Bericht, in dem es hieß, dass die Bauern der Gegend die Skulpturen an einem der Fundorte als Zielscheiben für ihre Schießübungen benutzten.»
Unsere Statue sagt mehr darüber aus, was wir nicht wissen, als darüber, was wir wissen. Ihre physische Präsenz spricht uns sehr direkt an, aber von allen hier vorgestellten Objekten ist sie vielleicht dasjenige, das, durch die Filter der Geschichte verschleiert, am wenigsten zuverlässig interpretiert werden kann. Mit dem nächsten Objekt möchte ich ebenfalls versuchen, eine verlorene spirituelle Welt zu rekonstruieren, aber in diesem Fall können wir uns auf wesentlich mehr Zeugnisse stützen. Dazu begeben wir uns an einen Ort, der als eine der letzten Regionen der Erde von Menschen besiedelt wurde – nämlich die Osterinsel – und der einige der unverwechselbarsten Skulpturen der Welt hervorgebracht hat.
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Hoa-haka-nana-ia
Steinstatue, von der Osterinsel (Rapa Nui), Chile
1000–1200 n. Chr.
Rapa Nui – die Osterinsel – ist die abgelegenste bewohnte Insel nicht nur im Pazifik, sondern weltweit. Sie ist etwa halb so groß wie die Isle of Wight, und es trennen sie ungefähr 2000 Kilometer von der nächsten bewohnten Insel und 3200 Kilometer von der nächsten Landmasse. Es ist also nicht verwunderlich, dass die Menschen ziemlich lange brauchten, um dorthin zu gelangen. Die Bewohner des südlichen Pazifik, die Polynesier, waren in der Geschichte der Welt die unbestrittenen Meister der Seefahrt, und die Fähigkeit, in ihren Doppelrumpfbooten die gewaltigen Weiten des Pazifik zu befahren, gehört zu den größten Errungenschaften des Menschen. Sie ließen sich auf Hawaii und in Neuseeland nieder, und als sie zwischen 700 und 900 Rapa Nui erreichten, beendeten sie damit ein langes Kapitel in der Geschichte der Menschheit – denn die Osterinsel war vermutlich einer der letzten Orte der Erde, die auf Dauer besiedelt wurden.
Es sollte noch tausend Jahre dauern, bis europäische Seefahrer sich in der Kunst der Navigation mit den Polynesiern messen konnten, und als sie am Ostersonntag 1722 auf Rapa Nui landeten, stellten sie zu ihrer Verwunderung fest, dass die Insel bereits einigermaßen dicht bevölkert war. Noch mehr staunten sie über die Skulpturen, die die Bewohner geschaffen hatten. Die kolossalen Monolithen der Osterinsel sind einmalig im Pazifik oder genauer gesagt auf der ganzen Erde, und sie
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