Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
tiefen Sprung auf. Doch der Sprung wurde mit einer Silberauflage repariert, und diese Silberplatte weist eine Inschrift auf. Vermutlich wurde sie im 17. oder 18. Jahrhundert, 300 Jahre nach der Hinrichtung des Eigentümers, eingraviert. Da die Inschrift in osmanischem Türkisch verfasst ist, kann man davon ausgehen, dass der Becher mittlerweile nach Istanbul gelangt war. Der Text lautet: «Gottes Güte ist grenzenlos.»
Der unglückliche Ulug Beg wäre möglicherweise anderer Meinung gewesen. Zu der Zeit, als die türkische Inschrift eingraviert wurde, dehnte Russland seine Herrschaft schon auf die Gebiete des ehemaligen Reiches der Timuriden aus. Im 19. Jahrhundert sollte die gesamte Region zum Russischen Reich gehören und Samarkand einer neuen zentralasiatischen, erst zaristischen, dann sowjetischen Macht einverleibt sein, bis auch dieses Staatsgefüge 1989 auseinanderbrach, eine Umwälzung, wie sie den Timuriden vermutlich ziemlich bekannt vorgekommen wäre.
Einer der Staaten, die nach dem Ende der Sowjetunion entstanden sind, ist Usbekistan. Auf der Suche nach seiner Identität greift der Staat auf Elemente der Vergangenheit zurück, die weder russisch noch chinesisch, persisch oder türkisch sind. Usbekische Banknoten verkünden der Welt, dass dieser neue Staat das Erbe des Timuriden-Reichs antritt: Sie zeigen das Mausoleum, das die Sarkophage aus schwarzer Jade beherbergt, in denen die sterblichen Überreste von Tamerlan und Ulug Beg ruhen.
Zweifellos hat Ulug Beg als Astronom mehr geleistet als in seinem Amt als Herrscher eines untergehenden Reiches, daher ist es vielleicht ganz passend, dass der nach ihm benannte Mondkrater in der Nähe des Oceanus Procellarum, des Meers der Stürme, liegt, Stürme, in denen sein Becher ihm nur Trost hätte spenden, aber keinen Schutz hätte bieten können.
75
Dürers
Rhinocerus
Holzschnitt, aus Nürnberg
1515 n. Chr.
Das kleine Eiland St. Helena im Südatlantik hat vor allem als Freiluftgefängnis für Napoleon Bonaparte Berühmtheit erlangt, der 1815 nach der Schlacht von Waterloo hierher verbannt wurde. Aber auf St. Helena hatte auch ein anderes in Europa bestauntes Wesen einen kurzen Aufenthalt – ein Geschöpf, das viel weniger Schaden anrichtete als der französische Kaiser und das im Jahr 1515 in Europa als Wunderwesen betrachtet wurde – ein indisches Panzernashorn. Auch das Tier erreichte die Insel als Gefangener, und zwar auf einem portugiesischen Schiff, das auf seiner langen Reise von Indien nach Lissabon – einer Reise, die einen Triumph der Schifffahrt markierte – hier eine Zwischenstation einlegte. Europa stand an der Schwelle einer gewaltigen Expansion, die zur Erforschung, Kartographierung und Eroberung weiter Teile der Erde führen sollte und möglich gemacht wurde durch die Entwicklung neuer Techniken im Schiffsbau und bei der Segelherstellung. Es bestand ein großes Interesse daran, das neu erworbene und rasch anwachsende Wissen mit Hilfe einer anderen technischen Neuerung – des Buchdrucks – festzuhalten und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Alle diese Aspekte treffen in unserem Objekt, das zu den berühmtesten Kunstwerken der Renaissance gehört, zusammen. In einer Hinsicht zumindest hatte das indische Nashorn mehr Glück als Napoleon: Es wurde von Albrecht Dürer porträtiert.
In den vorangegangenen Kapiteln habe ich Objekte von vier großen Landmächten vorgestellt, die vor etwa 500 Jahren rund um die Erde jeweils ein riesiges Gebiet beherrschten. Dieses Objekt führt nun eine im Aufstieg begriffene Seemacht, nämlich Portugal, ein. Jahrhundertelang war zwischen dem IndischenOzean und Europa reger Handel mit Gewürzen betrieben worden, aber gegen Ende des 15. Jahrhunderts blockierten die Osmanen, die mittlerweile den östlichen Mittelmeerraum beherrschten, die traditionellen Handelswege (siehe Kapitel 71). Spanien und Portugal mussten sich nach neuen Wegen umsehen, um an die asiatischen Güter zu gelangen. Sie suchten auf dem Atlantik nach befahrbaren Routen – ein schwieriges Gebiet, wenn man unter Segeln lange Strecken zurücklegen will. Beim Versuch, westwärts segelnd einen Seeweg nach Indien zu finden, entdeckten die Spanier den amerikanischen Doppelkontinent; die Portugiesen schipperten in südlicher Richtung entlang der scheinbar endlosen Küste Afrikas, umsegelten das Kap der Guten Hoffnung und erreichten schließlich den Indischen Ozean, wo die Reichtümer Asiens auf sie warteten. Sie errichteten in Indien und
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