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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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Reichtümer Asiens. Kein Wunder also, dass Dürer sich so stark angesprochen fühlte. Der Historiker Felipe Fernández-Armesto erklärt:
    «Das Rhinozeros hatte eine solche Bedeutung, weil die Leute es ansahen und in ihm die Verkörperung eines der berühmtesten Werke der antiken Literatur, der
Naturalis historia
von Plinius dem Älteren, erkannten, das einen sehr kurzen Artikel über das Nashorn enthält. Und wenn die Leute das Tier sahen, sagten sie: ‹Plinius hatte recht! Dieses Tier gibt es wirklich! Das ist ein Beweis für die Verlässlichkeit dieser Schriften aus der Antike …› Darum hat Dürer das Nashorn gezeichnet und darum waren Abzüge seines Holzschnitts in ganz Europa so begehrt.»
    Der portugiesische König entschloss sich, das Nashorn als Geschenk an den Papst nach Rom zu schicken, weil er dessen Unterstützung für seine kolonialen Ansprüche in Ostasien benötigte. Er wusste, dass der Papst und ganz Rom von dem Tier fasziniert sein würden. Aber das arme Geschöpf schaffte es nicht bis nach Italien. Das Schiff, mit dem es transportiert wurde, geriet vor La Spezia in einen schweren Sturm und ging mit Mann und Maus unter. Obwohl Nashörner ziemlich gute Schwimmer sind, ertrank dieser Vertreter seiner Spezies, weil er an Deck festgekettet war.
    Doch sein Ruf lebte weiter, und selbst als es tatsächlich noch am Leben gewesen war, hatten Beschreibungen und Zeichnungen des exotischen Geschöpfes sowie Gedichte über es in ganz Europa die Runde gemacht. Eine solche Zeichnung gelangte auch nach Nürnberg und in Dürers Hände; natürlich hatte Dürer noch nie ein Nashorn gesehen. Wir haben keine Ahnung, wie detailgenau die Zeichnung war, jedenfalls aber ist vieles an dem Druck, den Dürer nach dieser Vorlage gefertigt hat, der Fantasie des Künstlers entsprungen. Auf den ersten Blick sieht es in etwa so aus, wie man es von einem indischen Panzernashorn erwartet – dicke, stämmige Beine, ein gepanzerter Rücken, ein Schwanz mit gefiederter Spitze und natürlich das eine Horn auf der Nase. Aber irgendetwasstimmt nicht an dem Tier – besser gesagt stimmt vieles nicht, wenn man es mit einem echten Rhinozeros vergleicht. Die Beine sind geschuppt und enden in großen, abgespreizten Zehen. Die Haut weist Kniffe und Falten auf und steht steif von den Beinen ab – es ist eigentlich keine Haut, sondern ein Panzer. Im Nacken sitzt eigenartigerweise ein zweites, kleineres Horn – keiner weiß, was es da zu suchen hat – und das ganze ungewöhnlich stachelbärtige Wesen ist mit kleinen Schuppen und Wirbeln überzogen, die militärisch und dekorativ zugleich wirken.
    Das Bild ist weit entfernt von einem echten Rhinozeros, aber nachdem das lebende Exemplar ertrunken war, wurde Dürers Phantasieprodukt für Millionen von Europäern zur Wirklichkeit. Und er schaffte es, das gewaltige Interesse an dem Tier zu befriedigen, indem er mit Hilfe der neuen Technik des Holztafeldrucks massenhaft Abzüge von dem Bild fertigte.
    Dürers Heimatstadt Nürnberg war ein wichtiges Handelszentrum und Standort der ersten Druckereien und Verlage. Dürer selbst war 1515 der bedeutendste Graphiker seiner Zeit, eine ideale Voraussetzung für ihn, aus seiner Nashornzeichnung einen profitablen Druck zu machen. Bis zu seinem Tod wurden vierbis fünftausend Kopien des
Rhinocerus
vertrieben, und seither ist es millionenfach in dieser oder jener Form verkauft worden. Das Bild prägte sich ein: In naturgeschichtlichen Werken hielt es sich auch dann noch unerschütterlich, als wirklichkeitsgetreuere Darstellungen zur Verfügung standen. Im 17. Jahrhundert war das
Rhinocerus
allgegenwärtig; vom Portal des Doms zu Pisa bis zur Wandmalerei in einer kolumbianischen Kirche reichte seine Verbreitung. Und heute findet es sich auf Kaffeebechern, T-Shirts und Kühlschrankmagneten wieder.
    Fünf Jahre nach der Entstehung des
Rhinocerus
erlebte Dürer eine weitere exotische Begegnung. 1520 sah er in Brüssel aztekische Mosaiken in Form von Masken und Tieren, die mindestens so fremdartig und faszinierend waren wie das Nashorn. «Herrliche Objekte aller Art und für die verschiedensten Zwecke», notierte er in seinem Tagebuch, «schöner in meinen Augen als Wunderwerke.» Die neuen Welten, mit denen die Europäer konfrontiert wurden, sollten das Bild, das sie von sich selbst hatten, nachhaltig verändern.

Teil XVI
Die erste Weltwirtschaft
1450–1650 n. Chr.
    Dies waren die
Jahre, in denen Europäer sich
zum ersten Mal weit über die Grenzen

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