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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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Leibe aufschlitzten, vielmehr schlugen sie ihnen einfach den Kopf ab und enthäuteten sie; Blut und Herz aller Tiere bewahrten sie auf und opferten sie der Sonne so wie die des ersten Lammes, und zwar verbrannten sie alles zu Asche.»
    Und während die echten Tiere geschlachtet wurden, erzählt der Chronist weiter, brachten Provinzherrscher zum Zeichen ihres großen Reichtums an Tieren Lamafigürchen aus Gold und Silber mit. Vielleicht war unser Lama eine solche Symbolgabe, vielleicht war es aber auch Teil eines anderen, wesentlich grausameren religiösen Rituals der Inka, zu dem es gehörte, dass ausgewählte Kinder der herrschenden Klasse als lebende Opfergaben an die Berggeister auf Gipfeln ausgesetzt und allein zurückgelassen wurden. Neben ihren sterblichen Überresten wurden oft goldene Lamafigürchen wie das unsere gefunden.
    Der Wohlstand des Inkareichs beruhte nicht nur auf den riesigen Lamaherden, sondern auch darauf, dass die Inka Angehörige der besiegten Völker zwangen, für sie zu arbeiten. Diese ihres Besitzes beraubten und ausgebeuteten Untertanen waren allerdings nicht annähernd so gefügig wie die Lamas und betrachteten die Inka als verhasste Tyrannen:
    «Die fremde Tyrannei steht vor den Türen unserer Häuser … und wenn wir ihn als Herrscher annehmen, wird er uns unsere althergebrachte Freiheit, Macht und Herrschaft nehmen … Sie werden uns die besten Güter nehmen, die wir haben, und die schönsten Frauen und Töchter, die wir besitzen … sie werden uns unsere alten Bräuche nehmen und uns neue Gesetze geben … kurzum, er wird uns in ewiger Knechtschaft und Botmäßigkeit halten.»
    In vielen Provinzen stand die Inkaherrschaft auf tönernen Füßen. Immer wieder wurde sie durch Aufstände geschwächt, und als Pizarro 1532 zurückkehrte, um Peru zu erobern, erwies sich diese Achillesferse als fatal. Einige Mitglieder der örtlichen Oberschicht ergriffen ohne Zögern die Gelegenheit beim Schopf und verbündeten sich mit den Eindringlingen, um das Joch der Inka abzuschütteln.
    Die Spanier bekamen nicht nur Verstärkung von einer wachsenden Zahl Aufständischer, sie verfügten auch über Schwerter, Rüstungen und Gewehre – alles Dinge, die die Inka nicht besaßen – und sie hatten vor allem Pferde. Die Inka hatten noch nie ein Pferd mit Reiter gesehen, und die Schnelligkeit und Wendigkeit, mit der sich dieses Gebilde aus Mensch und Tier bewegen konnte, versetzte sie in Staunen. Plötzlich müssen ihnen die kleinen Lamas hoffnungslos langsam und zerbrechlich erschienen sein. Am Ende war alles ganz schnell vorbei – kaum mehr als zweihundert Spanier metzelten das Heer der Inka nieder, nahmen deren Herrscher gefangen, setzten einen Marionettenkaiser für ihn ein und schmolzen die Goldschätze ein. Unser kleines Lama ist einer der wenigen Überlebenden dieser Barbarei.
    Die Spanier hatten sich von Gerüchten über enorme Goldschätze nach Peru locken lassen. Doch was sie fanden, waren die reichsten Silberminen der Welt, und so begannen sie die Münzen zu prägen, die die erste Weltwährung bilden sollten. Die Inka maßen ihren Reichtum in Lamas, die Spanier, wie wir in Kapitel 80 sehen werden, in Silbermünzen zu acht Reales.

74
Drachenbecher aus Jade
    Jadebecher, aus Zentralasien
1417–1449 n. Chr.
    «Führn wir euch zum erhab’nen Kriegszelt nun,
    wo ihr den Skythen Tamburlan vernehmt,
    wie er der Welt mit hohen Worten droht zum Staunen
    und Königreiche geißelt mit des Erob’rers Schwert.»
    Mit diesen Worten schrieb Christopher Marlowe auf ewig das Bild fest, das man sich in Europa von Tamerlan, dem auch im elisabethanischen England noch legendären Eroberer, machte. Knapp zweihundert Jahre früher, um 1400, hatte Tamerlan die Herrschaft über alle mongolischen Gebiete außer China angetreten. Das Kernland seines Reiches war das, was wir heute als Usbekistan, Kasachstan, Turkmenistan und Tadschikistan kennen. Dieses ungeheuer weite Gebiet Zentralasiens blickt auf eine turbulente Geschichte zurück, in deren Verlauf Reiche entstanden, zerfielen und vergingen – bis ein neues Reich aufstieg und der Kreislauf von vorne begann. Es ist eine Region, die zwangsläufig zwei Seiten hat, deren eine nach China im Osten blickt, während die andere zur Türkei und zu Iran im Westen gewandt ist. Tamerlans Hauptstadt Samarkand war eine wichtige Station an der großen Seidenstraße, die diese beiden Welten verband. Unser kleiner Jadebecher, der einst Tamerlans Enkel, dem Astronomen Prinz Ulug Beg

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