Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
Glaubensrichtung geben könne. Im Iran des 16. und 17. Jahrhunderts war die Antwort ein entschiedenes Ja. Aber die monotheistischen Religionen haben eines gemein: Sie können in der Regel nicht lange in friedlicher Koexistenz leben, und die Toleranz im Umgang miteinander ist so umstritten wie zerbrechlich. In diesem Kapitel werde ich am Beispiel eines
‘alam
, einer reich verzierten Prozessionsstandarte aus Messing, untersuchen, wie die Dinge im Iran des 17. Jahrhunderts lagen. Ein
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war ursprünglich eine Kriegsstandarte, die wie eine Fahne vorausgetragen wurde, wenn ein Heer in die Schlacht zog, doch im 17. Jahrhundert verwendete man sie in feierlichen Prozessionen, und sie führten keine Kampftruppen an, sondern Heerscharen von Gläubigen.
Schah Abbas gehörte zur Dynastie der Safawiden, die um 1500 an die Macht kamen und den schiitischen Islam als Staatsreligion einsetzten, was er in Iran bis heute geblieben ist. In diesem Punkt kann man eine interessante Parallele zur Geschichte Englands unter den Tudors ziehen, die etwa um die gleiche Zeit denProtestantismus zur offiziellen Religion ihres Landes erhoben. Hier wie dort wurde die Religion zu einem bestimmenden Element, durch das sich das Land von seinen feindlichen Nachbarn abgrenzte – das protestantische England vom katholischen Spanien und der schiitische Iran von den benachbarten sunnitischen Staaten, allen voran der Türkei.
Schah Abbas, ein Zeitgenosse von Königin Elisabeth I., verfügte über einen ungewöhnlichen politischen Verstand und einen noch ungewöhnlicheren Pragmatismus in Glaubensfragen. Wie Elisabeth war er erpicht darauf, Beziehungen mit anderen Ländern zu knüpfen und den Handel mit diesen zu fördern. Seine Hauptstadt Isfahan stand der Welt offen, er empfing chinesische Gesandte und stellte Engländer als seine Berater ein; gleichzeitig weitete er die Grenzen seines Landes aus, und im Zuge dieser Eroberungen siedelte er eine in Gefangenschaft geratene Gruppe armenischer Christen nach Isfahan um. Diese zogen einen höchst einträglichen Seiden- und Stoffhandel mit Vorderasien und Europa auf, und zum Dank ließ Schah Abbas ihnen eine christliche Kathedrale errichten. Europäische Besucher staunten über das hohe Maß aktiver religiöser Toleranz, die es Christen und Juden erlaubte, innerhalb eines muslimischen Staates ihre religiösen Bräuche an eigens dafür geschaffenen sakralen Plätzen zu praktizieren – eine religiöse Vielfalt, die im christlichen Europa zu dieser Zeit undenkbar gewesen wäre. Natürlich war Isfahan damals ein Zentrum islamischer Gelehrsamkeit und eine Stadt, in der die Architektur ebenso wie die Malerei und die Kunst der Seiden- und Keramikherstellung sowie der Metallbearbeitung im Dienst des Glaubens standen.
Dieser schiitische Iran, wie er, kosmopolitisch, wohlhabend und gottesfürchtig, unter den Safawiden über 200 Jahre lang Bestand hatte, ist in unserem um 1700 entstandenen
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noch immer sichtbar. Er ist gut einen Meter lang und hat in etwa die Form eines Schwertes, dessen Griff und Klinge durch eine Scheibe voneinander getrennt sind. Er besteht aus vergoldetem Messing, was typisch ist für die Schmiedekunst, die sich in Iran und vor allem in Isfahan, wo Kaufleute und Handwerksmeister aus Indien, dem Nahen Osten und Europa zusammentrafen und Handel trieben, herausgebildet hatte.
Aber so kosmopolitisch dieser
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in stilistischer und handwerklicherHinsicht auch sein mag, wurde er doch allein zur Verwendung in muslimischen Prozessionen gefertigt, bei denen er, an einer langen Stange befestigt, feierlich durch die Straßen getragen wurde. Die Klinge ist als filigranes Netz aus Wörtern und Mustern ausgearbeitet. Die Wörter sind gewissermaßen ein Glaubensbekenntnis, und Schriften wie diese gehören zum Bild des schiitischen Isfahan und machen dessen materielle Beschaffenheit aus.
Über der Hauptgebetsnische der Scheich-Lutfallah-Moschee stehen die Namen der Familie des Propheten.
Zur gleichen Zeit wie die christliche Kathedrale wurde in Schah Abbas’ Auftrag die Scheich-Lutfallah-Moschee errichtet. Sie verkündet der Welt eine Botschaft: Alle Bauteile sind mit Inschriften – den Worten Gottes, den Worten des Propheten und anderen Glaubenstexten – verziert. Genau genommen sieht es so aus, als würden die Schriftzüge das gesamte Gebäude tragen. Über dem Mihrab, der Hauptgebetsnische, die nach Mekka weist, der Richtung, der Gläubige beim Gebet zugewandt sein sollen, stehen die
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