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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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von jainistischen und buddhistischen Gruppen, zu 75 Prozent aus Hindus bestand.

    Anders als Christen und Juden werden Hindus im Koran nicht als «Volk des Buches» anerkannt und mussten folglich, wie die Mogulkaiser sehr wohl wussten, in ihrer Religionsausübung nicht unbedingt von islamischen Herrschern geduldet werden. Diese lösten das Problem, indem sie Angehörige anderer Glaubensrichtungen in das politische Geschehen einbezogen. Akbar und Jahangir kamen bestens mit der Vielfalt der Religionen zurecht. In ihren Streitkräften gab es Hindu-Generäle, und enge Beziehungen zu Geistlichen, ob muslimischen oder hinduistischen Glaubens, waren ein wichtiger Bestandteil der Lebensführung und Zukunftsgestaltung der herrschenden Moguln. Begegnungen mit Vertretern der Geistlichkeit gehörten zur Strategie der Staatsführung, und sie fanden über das damals zur Verfügung stehende Medium – Zeichnungen von der Art unserer Miniatur – in der Öffentlichkeit Verbreitung.
    Die Miniaturmalerei war eine Kunstform, die sich an den Höfen von London und Paris ebenso großer Beliebtheit erfreute wie in Isfahan und Lahore. Die Miniaturen aus dem Mogulreich machen deutlich, dass sich indische Maler der Entwicklungen in Persien und in Europa durchaus bewusst waren. Unser Exemplar, das auf etwa 1610 datiert wurde, zeigt einen wohlhabenden jungen Edelmann, möglicherweise eines Prinzen der regierenden Moguldynastie, im Gespräch mit einem Geistlichen, der weder über Reichtümer noch über Macht verfügt. Der Geistliche kniet, grauhaarig, bärtig und mit relativ einfachem Gewand, Umhang und Turban bekleidet, auf der linken Seite, vor ihm liegt ein gegabelter Stab – eine Armstütze oder Krücke, die den Besucher als muslimischen Derwisch kenntlich macht. Der junge Mann, der ihm gegenübersitzt, trägt ein violettes Gewand mit Goldstickerei und einen grünen Turban als Zeichen seines hohen Standes, und in seinem Gürtel steckt ein juwelenbesetzter Dolch (unverzichtbares Accessoire für einen Angehörigen der Oberschicht). Die beiden Männer, derasketisch anmutende Derwisch und der kostbar gekleidete Prinz, knien auf einem Podest vor einem kleinen, von einer Kuppel gekrönten Pavillon, unverkennbar ein islamischer Schrein, der die Grabstätte einer im Islam verehrten Person beherbergt. Über ihnen ragt ein zart gezeichneter Baum in den Himmel, an dessen Fuß eine einzelne blaue Schwertlilie wächst. Im Hintergrund verschmilzt eine sanft geschwungene Hügellandschaft mit dem Horizont.
    Die Landschaft spielt in der Malerei des Mogulreichs oft eine ebenso wichtige Rolle wie die Menschen. Die Schmuckgärten der Moguln, die nicht nur der Erholung dienten und das Auge erfreuten, sondern darüber hinaus als greifbare Symbole des islamischen Paradieses galten, waren berühmt. Die Landschaft bildet also einen angemessenen Rahmen für einen jungen Edelmann, der sich mit einem islamischen Lehrer über Glaubensfragen unterhält. In dieser beschaulichen Szene treffen Macht und Frömmigkeit aufeinander und stehen miteinander im Dialog.
    Ich habe Asok Kumar Das, einen Experten auf dem Gebiet der Mogulmalerei, gebeten, mir zu erklären, welche Bedeutung das Bild insgesamt sowie die gleichzeitige Anwesenheit von Muslimen und Hindus in einem Bild haben:
    «Ursprünglich waren solche Bilder für die Augen des Königs und der von ihm auserwählten Mitglieder seiner Familie bestimmt, aber später fanden sie ziemlich weite Verbreitung, und wir finden dieses oder ähnliche Bilder in Kunstbänden und anderen Büchern. Es soll eine bestimmte Botschaft vermitteln, denn zu der Zeit, als Akbar sein Reich aufbaute, gab es Kriege, und gleichzeitig wollte er die Menschen wissen lassen, dass er keinen Krieg wünschte, sondern Frieden; überdies förderte er familiäre Verbindungen zwischen Hindus und Muslimen durch Eheschließungen, was für einen islamischen Herrscher des 16. Jahrhunderts einigermaßen ungewöhnlich war. Einige seiner engsten Verwandten und Hofbeamten waren Hindus und blieben es auch. Es kam aufgrund des unterschiedlichen Glaubens zwischen ihnen und ihrem König nicht zu Feindseligkeiten. Die Botschaft des Bildes an die Menschen lautet also, dass sie hier einen König vor sich haben, der ebenso tolerant wie wohlwollend ist und für ein Leben in Eintracht und Frieden eintritt.»
    Begegnungen dieser Art, bei denen sich ein mächtiger Herrscher in Demut vor der Weisheit eines Geistlichen verneigt, haben in Indien eine lange Tradition. Sie gehen

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