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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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Straßenbreite einnehmen können – des ungeachtet aber oft von einem einzigen Mann getragen werden.
    Wir haben mit Hossein Pourtahmasbi, einem der Ältesten der iranischen Gemeinde im Nordwesten Londons, gesprochen, der beschreibt, was das Tragen eines
‘alam
heute bedeutet:
    «Vor allem muss man ein guter Gewichtheber sein, weil er ziemlich schwer ist. Er kann bis zu 100 Kilogramm wiegen, aber es ist nicht nur das Gewicht – es ist auch die hohe und breite Form des
‘alam
, unter der man leicht das Gleichgewicht verliert. Man muss dazu körperlich sehr gut durchtrainiert sein. Die meisten Träger sind Ringer oder Gewichtheber und in dieser Szene gut bekannt. Aber Kraft allein genügt nicht; man muss auch in der Gemeinde einen guten Ruf genießen, weil die Tradition Türen öffnet. Sie hält die Erinnerung wach und sie macht dich stark; du singst die alten Lieder, hältst die Tradition aufrecht und führst sie weiter!»
    Zu der Zeit, als unser
‘alam
entstand, war ein solcher Einsatz von Muskelkraft zu einem Schlüsselelement schiitischer Feierlichkeiten geworden. Doch das harmonische Miteinander der verschiedenen Glaubensrichtungen, das sich unter Schah Abbas I. entwickelt hatte, geriet unter seinen Nachfolgern ins Wanken. Sultan Hussain, der letzte Safawiden-Herrscher, war ausgesprochen intolerant gegenüber Nichtschiiten und übertrug seinen geistlichen Führern weitreichende Befugnisse zur Durchsetzung der öffentlichen Ordnung, eine religiöse Unterdrückung, die sicher nicht unbeteiligt war an seinem Untergang. Im Jahr 1722 wurde Hussain entthront, die lange Herrschaftsperiode der Safawiden ging zu Ende, und Iran wurde in ein politisches Chaos gestürzt, das mehrere Jahrzehnte andauern sollte. Doch Schah Abbas’ Erbe ist in Iran bis heute spürbar. Die Schia ist die offizielle Staatsreligion, aber neben den Schiiten genießen Christen, Juden und Parsen das in der Verfassung garantierteRecht, ihre Religion frei und öffentlich auszuüben. Wie im 17. Jahrhundert ist Iran auch heute noch eine multireligiöse Gesellschaft, in der den verschiedenen Glaubensrichtungen ein Maß an Toleranz entgegengebracht wird, das viele Besucher überrascht und beeindruckt.

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Miniatur eines Mogulprinzen
    Zeichnung auf Papier, aus Indien
Um 1610 n. Chr.
    In unserer Welt der globalen Vernetzung ist das Bild – fast – alles. Jeder kennt die sorgsam inszenierten Fotos von Persönlichkeiten, die genau wissen, welche Wirkung es hat, wenn sie sich zusammen mit einem bestimmten Mitglied eines Königshauses, einem Politiker oder einem Prominenten ablichten lassen. In der Religionspolitik ist es manchmal noch wichtiger, sich mit den richtigen religiösen Führern zu zeigen – obwohl das auch seine Gefahren birgt: Sich beim Händeschütteln mit dem Papst oder mit dem Dalai Lama fotografieren zu lassen, mag kurzfristig Wählerstimmen einbringen, es kann aber auch negative politische Konsequenzen nach sich ziehen. Und nur wenige Politiker würden sich heute freiwillig in einer Situation sehen lassen, in der sie gute Ratschläge oder gar Maßregelungen von geistlicher Seite über sich ergehen lassen müssen.
    Der Dialog zwischen Macht und Glauben war im 17. Jahrhundert in Indien so komplex und explosiv, wie er es heute ist. Die Möglichkeiten der bildlichen Wiedergabe waren jedoch im 16. Jahrhundert vollkommen andere: Es gab keine Pressefotografen und keine Nachrichtensendungen rund um die Uhr, es gab nur die Malerei, und deren Zielgruppe war oft ein ganz bestimmtes Publikum. In unserer Miniatur aus dem indischen Mogulreich zeigt sich eine seltene, vielleicht sogar einmalige Verbindung zwischen der Welt der Macht und der Welt des Glaubens.
    Europa und Asien wurden im 16. und 17. Jahrhundert von drei islamischen Mächten beherrscht: vom Osmanischen Reich in Vorderasien und Osteuropa, vom Safawidenreich in Persien und vom Mogulreich in Südasien. Letzteres war bei weitem das reichste von allen. Es erlebte um 1600 unter Kaiser Akbar, einem weiteren Zeitgenossen von Elisabeth I., seine Blüte, die auch während der Regentschaftseines Sohnes Jahangir noch anhielt. In dieser Zeit entstand unsere Miniatur. Das Mogulreich war riesig; es erstreckte sich von Afghanistan im Westen 2300 Kilometer weit bis nach Dhaka, der Hauptstadt des heutigen Bangladesch; aber im Gegensatz zu den iranischen Safawiden und den osmanischen Türken regierten die Herrscher des Mogulreichs eine mehrheitlich nichtmuslimische Bevölkerung, die, abgesehen

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