Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
Namen der Ahl-ul-Bait, der «Leute des Hauses» – also der Familie des Propheten. Dazu zählen neben dem Propheten Mohammed selbst dessen Tochter Fatima, ihr Ehemann Ali und die beiden Söhne Hasan und Husain.
Diese Namen finden sich auch auf dem
‘alam
aus der Sammlung des Britischen Museums. Ali ist gleich dreimal vertreten. Für schiitische Muslime war Ali der erste Imam oder geistliche Führer der Gläubigen, und die Art von
‘alam
, wie ihn das Britische Museum besitzt, ist als «Schwert Alis» bekannt. An anderer Stelle trägt die Standarte die Namen von zehn weiteren schiitischen Imamen, die alle Nachfahren Alis waren und wie dieser den Märtyrertod starben. Wenn sie durch die Straßen getragen wurde, konnten die Gläubigen also die Namen des Propheten, Fatimas, Alis und aller anderen Imame sehen.
Schiiten sind der Überzeugung, dass nur Mitglieder des Hauses von Mohammed, also die direkten Nachfahren seines Schwiegersohns Ali, berechtigt seien, das Amt eines Imams, eines unfehlbaren religiösen Oberhaupts, auszuüben. Die Mehrheit der Sunniten erkannte dagegen den in sein Amt gewählten Kalifen als ihren geistlichen Führer an. In den Jahrzehnten nach Mohammeds Tod beschworen diese unterschiedlichen Auffassungen blutige Kriege herauf, in deren Verlauf Ali und seine Söhne den Tod fanden – der Beginn der Märtyrergeschichte der schiitischen Imame.
Unter den Safawiden wurde die Zwölferschia,
ithnās ‘asharīya
, zur offiziellen Glaubensrichtung erhoben. Nach dieser Lehre gab es eine Folge von zwölf Imamen, von denen elf, deren Namen auf unserer Standarte verzeichnet sind, als Märtyrer starben, während der zwölfte im Jahr 873 verschwand und seither im Verborgenen weiterlebt, bis er nach Gottes Willen eines Tages wieder erscheinen und die Schia als die eine gültige Religion der Erde einsetzen wird. Bis zu diesem Zeitpunkt sollten die safawidischen Schahs, die ihre Herkunft ebenfalls auf den Propheten zurückleiteten, stellvertretend seinen Platz auf Erden einnehmen. Doch maßgeblich in Glaubensfragen war nicht der Schah, sondern die Ulema – die Körperschaft islamischer Theologen und Rechtsgelehrter, die für die Auslegung islamischer Gesetze zuständig war und heute noch ist.
Die in Teheran geborene Politikprofessorin Haleh Afshar äußert sich zum Einfluss des Schiismus auf das gesellschaftliche und politische Leben Irans im Laufe der Jahrhunderte und zu der Rolle, die er sowohl in der Konstitutionellen Revolution von 1907 als auch in der Islamischen Revolution von 1979 gespielt hat:
«Jahrhundertelang repräsentierte der Schiismus nur eine kleine Nische innerhalb des Islam, eine Randgruppe mit eigenen, vom offiziellen Dogma abweichenden Überzeugungen, die in den religiösen Institutionen nie eine Rolle spielte und ständig in irgendwelche Kontroversen verstrickt war. Mit der Machtübernahme der Safawiden jedoch, die den Schiismus zur Staatsreligion in Iran erklärten, etablierte sich dieser als eine hierarchisch strukturierte Institution, die auch über einen gewissen politischen Einfluss verfügte. Das war einigermaßen neu in der Geschichte Irans. Der Prozess hat sich über die Jahrhunderte fortgesetzt, und nicht selten waren es religiöse Institutionen, die sich an die Spitze von Revolutionen setzten. Dies gilt für die Konstitutionelle Revolution, in der führende Geistliche die Einsetzung einer modernen Rechtsordnung und einer konstitutionellen Monarchie forderten, aber auch für die Islamische Revolution im Namen der Gerechtigkeit – schon immer ein zentrales Thema des Schiismus.»
Vermutlich liegt die Wurzel dieses übersteigerten Sinns für Gerechtigkeit im Wesen des Schiismus selbst – seiner einseitigen Ausrichtung auf Opfer und Märtyrer. Zu der Zeit, als unser
‘alam
gefertigt wurde, gegen Ende des 17. Jahrhunderts also, wurden zum Gedenken an die Märtyrertode feierliche Prozessionen mit öffentlichen Selbstgeißelungen, Sprechgesängen und rhythmischen Tänzenveranstaltet. Das verdeutlicht die widersprüchliche Natur unseres
‘alam
. Dem Namen und der Form nach ein Schwert und insofern auf den ersten Blick ein Symbol des Triumphs und des kämpferischen Geistes, wurde er in Wahrheit in schiitischen Prozessionen herumgetragen, die an Niederlagen, Leid und Märtyrerqualen erinnern sollten.
Heutige Prozessionsstandarten haben zum Teil gewaltige Ausmaße. Sie sind keine einfachen Metallklingen mehr, sondern riesige, mit Tuch bespannte Konstruktionen, die eine ganze
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