Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
hinter dem Puppenspieler aufgestellte Lichtquelle, früher eine Öllampe, warf dieSchatten der Marionetten auf ein aufgespanntes weißes Tuch. Ein Teil des Publikums, üblicherweise Frauen und Kinder, saß vor dem Schirm, also auf der Schattenseite, während die Männer auf der bevorzugten anderen Seite ihre Plätze hatten. Der Puppenspieler,
Dalang
genannt, musste nicht nur die Figuren bewegen, sondern auch das Gamelan-Orchester, das die Aufführung mit Musik begleitete, dirigieren.
Sumarsam, einer der führenden Schattenspiel-Meister und Gamelan-Musiker unserer Zeit, vermittelt eine Vorstellung davon, wie schwer es ist, eine Schattentheater-Aufführung glatt über die Bühne zu bringen:
«Als Puppenspieler muss man die Marionetten bewegen, manchmal zwei, drei oder sogar bis zu sechs Figuren gleichzeitig, und man muss wissen, wann man den Musikern das Zeichen für ihren Einsatz geben soll. Außerdem muss man natürlich in Dialogen die verschiedenen Stimmen der Figuren sprechen, und manchmal singt man auch Stimmungslieder, um die Atmosphäre einzelner Szenen zu erzeugen. Der Puppenspieler muss Arme und Beine benutzen – und das alles, während er mit gekreuzten Beinen auf dem Boden sitzt. Es macht Spaß, aber es ist auch ziemlich anstrengend. Die Geschichte kann der heutigen Zeit angepasst sein, aber die Grundstruktur der Handlung ist immer die gleiche.»
Die meisten Geschichten, die im Schattentheater erzählt werden, sind den zwei großen indischen Epen, dem
Mahabharata
und dem
Ramayana
, entlehnt, die beide vor weit über 2000 Jahren geschrieben wurden. Sie waren auf Java weithin bekannt, weil Hinduisten und Buddhisten die wichtigsten Glaubensgemeinschaften auf der Insel bildeten, bevor der Islam als Hauptreligion dort Einzug hielt.
Wie der Buddhismus, der um 800 die Tempelanlage Borobudur (siehe Kapitel 59) hervorbrachte, und der Hinduismus, aus dem die
Mahabharata
hervorging, gelangte der Islam über die Seehandelsrouten, die Indonesien mit Indien und dem Vorderen Orient verbanden, nach Java. Javanische Provinzregenten erkannten bald, welche Vorteile es mit sich bringen würde, wenn sie Muslime wurden: Abgesehen davon, ob ihnen die spirituellen Inhalte des Glaubens zusagten oder nicht, würde es ihnen den Handel mit der muslimischen Welt erleichtern und ihren Beziehungen zu den mächtigen islamischen Staaten, dem Osmanischen Reich unddem Mogulreich, förderlich sein. Die neue Religionszugehörigkeit brachte in vielen Lebensbereichen einschneidende Veränderungen mit sich, aber im Großen und Ganzen ging der Islam eher in der bestehenden javanischen Kultur auf, als dass er sie vollkommen verdrängte.
Eine Bhima-Puppe aus Bali weist deutlich naturalistische Züge auf.
Den nunmehr islamischen Regenten scheint dies recht gewesen zu sein – sie setzten sich weiterhin tatkräftig für das Schattenspiel mit seinen hinduistischen Geschichten ein, das sich der gleichen Beliebtheit erfreute wie eh und je. Die Figur des Bhima wurde und wird vom Publikum damals wie heute unweigerlich auf Anhieb erkannt. Im
Mahabharata
ist Bhima einer von fünf heldenhaften Brüdern (ihre Abenteuer kann man heute in Zeichentrickfilmen im Internet verfolgen); er ist der große Krieger unter ihnen – edelmütig, geradeheraus und mit übermenschlicher Kraft gesegnet, kann er es mit 10.000 Elefanten aufnehmen, verfügt nebenbei aber noch über ein gutes Maß an Witz und Schlagfertigkeit und ist so etwas wie ein Starkoch. Eine einzige Berührung seiner Kralle bringt seinen Feinden den Tod.
Das schwarze Gesicht der Bhima-Figur drückt innere Ruhe und heitere Gelassenheit aus, während die «Schurken» des Schattentheaters als Zeichen ihrer Grausamkeit und Rachsucht meist rot bemalte Gesichter haben. Wenn wir unsere javanische Marionette mit ihrer übertrieben langen Nase und ihren Klauenhänden mit einer Bhima-Figur von der Insel Bali vergleichen, deren Bevölkerung am hinduistischen Glauben festhielt, wird der islamische Einfluss deutlich, der die Ausgestaltung der Ersteren mit geprägt hat. Die Figur aus Bali weist rundere, realistischere Gesichtszüge auf, und die Proportionen zwischen Armen und Beinen und dem Körper sind weniger übertrieben. Die Unterschiede haben, wie viele Javaner heute sagen, religiöse Ursachen; dieser Auffassung zufolge veränderten muslimische Hersteller auf Java das Aussehen der traditionellen hinduistischen Marionetten, um dem im Islam geltenden Verbot, Gott oder Menschen abzubilden, Genüge zu tun. Aus
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