Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
dem 16. und 17. Jahrhundert wird von Versuchen berichtet, das Schattentheater zu verbieten; es ist aber auch von einem bekannten muslimischen Lehrer namens Sunan Giri die Rede, der die geniale Idee hatte, man könne das Verbot doch einfach umgehen, indem man die Gesichter der Figuren unkenntlich machte – ein glücklicher Kompromiss, der das merkwürdige Aussehen unseres Bhima erklären könnte.
Indonesien ist mit seinen 240 Millionen Einwohnern der bevölkerungsreichste islamische Staat der Welt, und das Schattentheater ist nach wie vor ausgesprochen lebendig. Der malaysischstämmige Schriftsteller Tash Aw erklärt, welche Bedeutung dem Schattentheater bis heute zukommt:
«Auch heute wird das, was sich im Schattentheater tut, mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Es ist eine Kunstform, die ständig neue Impulse erhält und immer wieder mit neuen, aufregenden Aspekten belebt wird. Und obwohl die Geschichten immer noch weitgehend auf dem
Ramayana
und dem
Mahabharata
beruhen, füllen die jüngeren Puppenspieler das Schattentheater mit Witz und Leben und nutzen es, um die indonesische Politik und Gesellschaft mit bissigen Kommentaren zu persiflieren, was sich natürlich nur schwer auf andere Länder übertragen lässt. Ich erinnere mich beispielsweise an einen fulminanten Monolog in einem Stück, das 1997, kurz nach der Finanzkrise, in Jakarta aufgeführt wurde. Das Stück hieß, grob übersetzt, ‹Die Zunge liegt immer noch im Koma› oder ‹Die Zunge ist immer noch verstummt›, und der damalige Präsident Habibie wurde in der Figur eines Spaßmachers namens Gareng karikiert, ein plumper Kerl mit Kulleraugen, der unglaublich ernsthaft ist, aber absolut nichts zustande bringt. Das Schattentheater ist also ein Ort der gesellschaftlichen und politischen Satire geworden, die in dieser Form in den Massenmedien kaum vorkommt, weil diese leichter einer Zensur unterworfen werden können; das Schattentheater ist viel flexibler, es steht in engerer Verbindung zum Volk und ist daher schwerer zu kontrollieren.»
Aber nicht nur die Opposition bedient sich des Schattentheaters für ihre Zwecke. Sukarno, der zum ersten indonesischen Präsidenten gewählt wurde, als das Land nach dem Zweiten Weltkrieg die Unabhängigkeit von den Niederlanden erlangte, verglich sich gern mit Schattenspielfiguren und vor allem mit Bhima, dem aufrechten Kämpfer, der die Sprache des Volkes spricht. Sukarno wurde oft als der
Dalang
des indonesischen Volkes bezeichnet, der Strippenzieher, der seinem Volk eine Stimme gibt, es in seinem neuen Staat geleitet und durch sein nationales Epos führt, wie er es tatsächlich 20 Jahre lang getan hat, bis man ihn 1967 davonjagte.
Warum befindet sich aber gerade
dieser
Bhima heute im Britischen Museum? Die Antwort liefert, wie so oft, die europäische Politik. Im Zuge der Napoleonischen Kriege fiel Java für die Dauer von fünf Jahren, nämlich von 1811 bis 1816, anGroßbritannien. Der britische Gouverneur Thomas Stamford Raffles, der später die Stadt Singapur gründen sollte (siehe Kapitel 59), war ein ernst zu nehmender Forscher und ein großer Bewunderer der javanischen Kultur aller Epochen, und wie alle Regierenden auf Java hielt er die Tradition des Schattentheaters aufrecht und sammelte Schattenspielfiguren. Aus dieser Sammlung stammt unser Bhima. Die kurze Phase britischer Regentschaft liefert auch die Antwort auf eine weitere Frage – warum nämlich das Auto, von dem aus der kleine Barack Obama im muslimischen Jakarta die Statue einer hinduistischen Gottheit erblickte, auf der linken Straßenseite fuhr.
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Mexikanische Kodex-Landkarte
Auf Rindenpapier gezeichnete Landkarte, hergestellt in Tlaxcala, Mexiko
1550–1600 n. Chr.
Der schiitische
‘alam
, die Miniatur aus dem Mogulreich und die javanische Schattenspielfigur stehen für Kulturen, in denen verschiedene Glaubensgemeinschaften einen Weg gefunden haben, einigermaßen vernünftig miteinander auszukommen – sowohl in Iran als auch in Indien und Indonesien galt religiöse Toleranz im 16. und 17. Jahrhundert als Zeichen einer erfolgreichen Staatsführung. Ungefähr zur gleichen Zeit wurde der christliche Glaube in Mexiko dagegen als Werkzeug der Eroberung wahrgenommen und konnte daher bei der einheimischen Bevölkerung nur sehr langsam Fuß fassen. Heute, ein halbes Jahrtausend später, sind rund 80 Prozent der Bewohner Mexikos Katholiken. Der Prozess der Christianisierung hat auch die bauliche Landschaft verändert: Quer durch das
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