Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
heiter ihre Wandschirme bemalen, während jenseits der Meere, in Europa und Amerika, die Industrialisierung fortschreitet und politische Unruhen wüten.
Dieses Image wollten die Japaner mitunter selbst kultivieren, und so wurde auch das berühmteste aller japanischen Bilder,
Die Große Welle
, zuweilen gesehen. Dieser um 1830 durch den großartigen Künstler Hokusai angefertigte Bestseller-Holzschnitt gehört zu einer Serie von sechsunddreißig Ansichten des Berges Fuji. Das Museum besitzt drei Abzüge der
Großen Welle
. Der hier gezeigte ist ein früher, der entstand, als der Druckstock noch unverbraucht war, was bedeutet,dass er scharfe Linien und klar voneinander abgegrenzte Farben aufweist. Auf den ersten Blick präsentiert er das hübsche Bild einer tiefblauen Welle, die über dem Meer wogt, und weit in der Ferne die sanfte schneebedeckte Spitze des Berges Fuji. Man könnte denken, es handle sich um ein stilisiertes, dekoratives Bild eines zeitlosen Japan. Aber man kann Hokusais
Große Welle
auch auf andere Weise lesen. Schauen Sie ein wenig genauer hin, und Sie werden sehen, dass die schöne Welle im Begriff ist, drei Boote mit verängstigten Fischern zu verschlingen. Der Berg Fuji hingegen ist so klein, dass Sie als Betrachter das Gefühl beschleicht, das die Seemänner im Boot haben müssen, wenn sie mit den Augen die Küste suchen – sie ist unerreichbar, und man ist verloren. Ich denke, das ist ein Bild, in dem Haltlosigkeit und Unsicherheit zum Ausdruck kommen.
Die Große Welle
erzählt uns etwas über Japans Gemütslage, als es an der Schwelle zur modernen Welt stand, der es sich, gezwungen durch die Amerikaner, schon bald anschließen sollte.
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Industrielle Revolution begann, suchten die großen Industriemächte, vor allem Großbritannien und die Vereinigten Staaten, unablässig nach neuen Rohstoffquellen und Absatzmärkten für ihre Produkte. Diese Protagonisten des Freihandels hielten die Welt für ihr Revier, und sie wollten sie zwingen, sich zu öffnen. Ihnen schien es unverständlich – ja sogar unerträglich –, dass Japan es ablehnte, seinen Teil zur globalen Wirtschaft beizutragen. Die Japaner wiederum fanden es nicht notwendig, mit diesen drängenden Möchtegern-Partnern Handelsbeziehungen einzugehen. Ihnen genügten die bereits bestehenden Vereinbarungen völlig.
Ende der 1630er Jahre hatte das Land fast alle seine Häfen für Händler, Mis sionare und Fremde geschlossen. Den Einwohnern Japans war es weder erlaubt, das Land zu verlassen, noch durften Ausländer einreisen – Verstöße wurden mit dem Tod bestraft. Ausnahmen galten nur für holländische und chinesische Kaufleute, deren Schiffs- und Handelsverkehr auf den Hafen der Stadt Nagasaki beschränkt war. Dort wurden regelmäßig Waren ein- und ausgeführt (wie wir in Kapitel 79 gesehen haben, füllten die Japaner die Lücke, die im europäischen Porzellanhandel durch die politischen Probleme Chinas in der Mitte des 17. Jahrhunderts entstanden war, schnell aus), jedoch zu Bedingungen, die allein die Japaner bestimmten. Was den Handel mit der übrigen Weltanging, so gaben sie vor, was zu tun war. Das war weniger
splendid isolation
als selektives Engagement.
Wenn auch Ausländer nicht nach Japan einreisen konnten, ausländische Waren konnten es. Wir sehen das sehr deutlich, wenn wir uns die Beschaffenheit von Material und Farben der
Großen Welle
genauer anschauen. Wir haben eine ziemlich traditionell anmutende japanische Szene vor uns – die riesige Welle erhebt sich über den langen, offenen Fischerbooten und lässt sie und sogar den Berg Fuji in der Ferne winzig klein erscheinen. All das ist auf traditionellem japanischen Maulbeerbaumpapier, ungefähr von der Größe eines Din-A3-Blattes, gedruckt und erscheint in zarten Gelb-, Grau- und Rosatönen, aber es ist das satte Blau, das bestimmend ist – und für Verwunderung sorgt. Denn es ist kein japanisches Blau – es ist Preußischblau oder Berliner Blau, eine synthetische Farbe, die in Deutschland im frühen 18. Jahrhundert kreiert wurde und viel weniger verblasst als herkömmliche Blautöne. Preußischblau wurde entweder direkt von holländischen Händlern oder, noch wahrscheinlicher, über China importiert, wo es seit den 1820er Jahren hergestellt wurde. Das Blau der
Großen Welle
zeigt uns, dass Japan von Europa mit absoluter Überzeugung nahm, was es haben wollte. Die Serie von Ansichten des Berges Fuji wurde dem Publikum
Weitere Kostenlose Bücher