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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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teilweise wegen des exotischen, schönen Blaus angepriesen, das für die Drucke verwendet wurde – geschätzt aufgrund seiner hervorstechenden Fremdartigkeit. Hokusai ließ sich aber nicht nur bei der Farbwahl vom Westen inspirieren – er entlieh sich auch die Regeln der europäischen Perspektivmalerei, um den Berg Fuji weit in die Ferne zu rücken. Es ist evident, dass Hokusai europäische Drucke studiert haben muss, die die Holländer nach Japan gebracht hatten und die bei Künstlern und Sammlern in Umlauf waren. So ist die
Große Welle
nicht etwa der Inbegriff japanischer Kunst, sondern eine Kreuzung, eine Verschmelzung von europäischen Materialien und Konventionen und japanischer Empfindsamkeit. Kein Wunder, dass dieses Bild in Europa seit jeher so beliebt ist: Es ist keineswegs etwas ganz und gar Fremdes, sondern ein exotischer Verwandter.
    Es zeigt zudem eine, wie ich meine, eigentümlich japanische Ambivalenz. Als Betrachter hat man keinen Standpunkt, keinen Halt. Man findet sich selbst der Gefahr ausgesetzt, in einem Boot unter der
Großen Welle
wieder. Die gefährliche See, über die Güter und Ideen aus Europa anreisten, ist zutiefst vieldeutig wiedergegeben.Christine Guth hat Hokusais Werk, im Besonderen
Die Große Welle
, eingehend studiert:
    «Sie entstand zu einer Zeit, in der ausländische Übergriffe auf die Inseln begannen, den Japanern zu schaffen zu machen. So schien diese große Welle einerseits eine symbolische Barriere zum Schutze Japans darzustellen, aber andererseits brachte sie den Japanern auch die Möglichkeiten nahe, die Reisen ins Ausland und der Austausch von Ideen und Waren bieten konnten. Ich denke also, dass sie eng mit der Öffnung Japans verbunden war.»
    In den langen Jahren relativer Abgeschiedenheit hatte das von einer militärischen Oligarchie regierte Japan Frieden und Sicherheit genossen. Es gab strikte Regeln für das öffentliche Benehmen aller Klassen, wobei der herrschenden Elite gewisse Rechte zukamen, was das private Verhalten, Heirat, Waffen und viele andere Dinge anbetraf. In dieser Atmosphäre starker sozialer Kontrolle erlebten die Künste eine Blütezeit. Aber all das war nur möglich, solange der Rest der Welt sich fern hielt, und um 1850 gab es viele Außenstehende, die an den Gewinnen und Privilegien der Chinesen und Holländer teilhaben und mit diesem wohlhabenden und bevölkerungsreichen Land Handel treiben wollten. Japans Herrscher konnten sich dazu jedoch nicht durchringen, und so kamen die Amerikaner zu dem Schluss, dass der freie Handel gewaltsam durchgesetzt werden musste. Die Geschichte, die Stephen Sondheims ironisch betiteltes Musical
Pacific Overtures
erzählt, trug sich 1853 tatsächlich zu. Damals wurde Japans selbstauferlegte Isolation durchbrochen, als der sehr reale Flottenadmiral der US-Marine Matthew Perry ungebeten in die Bucht von Tokio einlief und verlangte, dass die Japaner mit Amerika in Handel traten. Hier ist ein Auszug des Briefes, verfasst vom Präsidenten der Vereinigten Staaten, den Perry dem japanischen Kaiser überbrachte:
    «Viele der großen Kriegsschiffe, die dazu bestimmt sind, Japan einen Besuch abzustatten, sind noch nicht in diesen Gewässern angekommen, und um seine freundlichen Absichten zu bekunden, hat der Unterzeichnende bisher nur vier kleinere ausgesandt. Wenn es aber nötig sein sollte, dann ist eine Rückkehr nach Edo mit einer sehr viel stärkeren Einheit im kommenden Frühling geplant.
    Aber es wird erwartet, dass die Regierung Eurer kaiserlichen Hoheit eine solche Rückkehr unnötig macht, indem sie die äußerst angemessenen und friedfertigen Annäherungsversuche, die der Brief des Präsidenten enthält, unmittelbar erwidert …»
    Das war Kanonenbootdiplomatie wie aus dem Lehrbuch, und sie funktionierte. Der japanische Widerstand schmolz, und schon sehr bald begrüßten die Japaner das neue wirtschaftliche Modell und wurden zu dynamischen Akteuren auf den internationalen Märkten, denen sie sich gezwungenermaßen angeschlossen hatten. Sie begannen, anders über das Meer, das sie umgab, zu denken, und sie erkannten schnell, welche Möglichkeiten die Welt jenseits der eigenen Grenzen bereithielt.
    Der Japanologe Donald Keene von der Columbia University deutet die Welle als Metapher für die Veränderungen in der japanischen Gesellschaft:
    «Die Japaner haben ein Wort für insular, das buchstäblich die mentale Befindlichkeit der Menschen, die dort leben, beschreibt:
shimaguni konjo
.
Shimaguni
heißt

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