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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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Landarbeiter schleppen ihre Lasten und bringen ihre Gaben dar, während die Elite mit dem König ein Gelage abhält. Um die Sonderstellung des Königs zu betonen, hat der Künstler ihn – ähnlich wie in dem Bild von König Den – viel größer dargestellt als alle anderen, ja, sogar so groß, dass sein Kopf die Grenzen des Bildes sprengt. In der Standarte von Ur erkennen wir ein neues Modell der Organisation einer Gesellschaft organisiert. Ich bat Professor Anthony Giddens, den früheren Direktor der London School of Economics, diesen Wandel der Gesellschaftsstruktur zu beschreiben:
    «Wenn man einen Überschuss erwirtschaftet, bilden sich gesellschaftliche Klassen oder Schichten heraus, denn einige leben von der Arbeit anderer, was in den traditionellen kleinen Agrargemeinschaften nicht möglich war, wo jeder gearbeitet hat. Anschließend entstehen eine priesterliche Kriegerschicht, organisierte Kriegführung, Tributzahlungen und so etwas wie ein Staat – womit eine neue Form von Macht entsteht. All diese Dinge hängen zusammen.
    Wo jeder die gleichen Güter produziert, kommt es zu keiner Trennung zwischen Reich und Arm; erst wenn man ein Mehrwertprodukt hat, von dem einige leben können und das andere produzieren müssen, entsteht ein Klassensystem; und daraus wird schon bald ein Macht- und Herrschaftssystem. Es gibt jetzt Einzelne, die für sich ein göttliches Recht in Anspruch nehmen, und das korrespondiert mit der Entstehung einer Kosmologie. Wir haben es also hier mit dem Ursprung der Zivilisation zu tun, aber er geht einher mit Blutvergießen, mit Kräftemessen und mit persönlicher Selbstüberhöhung.»
    Zeigt die eine Seite der Standarte den Herrscher, der über eine florierende Wirtschaft gebietet, so stellt ihn die andere Seite zusammen mit seiner Armee dar, die er brauchte, um diesen Wohlstand zu schützen. Das bringt mich zurück zu dem Gedanken, der am Anfang dieses Kapitels stand: Dass man, einmal reich geworden, kämpfen muss, um reich zu bleiben, scheint eine allgemeinehistorische Wahrheit zu sein. Der König der Zivilgesellschaft, den wir auf der einen Seite sehen, muss zugleich auch der Oberbefehlshaber sein, den wir auf der anderen Seite erleben. Die beiden «Gesichter» der Standarte von Ur sind tatsächlich eine großartige frühe Darstellung der engen Verbindung von Militär und Ökonomie, der hässlichen Gewalt, die der wirtschaftlichen Prosperität häufig zugrunde liegt.
    KRIEG : Der König nimmt Gefangene in Augenschein, während Streitwagen den Feind niedertrampeln.
    Schauen wir uns die Kriegsszenen noch etwas genauer an. Auch hier ragt der Kopf des Königs über den Bildrand hinaus; er trägt als Einziger ein langes Gewand und hält einen großen Speer in der Hand, während seine Männer Gefangene in den Tod oder die Sklaverei abführen. Sieger und Besiegte sehen sich erstaunlich ähnlich, denn es handelt sich mit ziemlicher Sicherheit um eine Schlacht zwischen engen Nachbarn – in Mesopotamien kämpften benachbarte Städte ständig gegeneinander um die Vorherrschaft. Die Verlierer werden nackt dargestellt, was das Demütigende der Niederlage betont, und ihr unterwürfiges Verhalten hat etwas Herzerweichendes. In der untersten Reihe finden sich einige der ältesten Darstellungen von Streitwagen – genauer: von irgendwelchen Fahrzeugen mit Rädern – und eines der ersten Beispiele für das, was später zu einem klassischen graphischen Mittel werden sollte: Der Künstler zeigt, wie die Maultiere, welche die Wagen ziehen, vom Gehen in einen Trab und dann in vollen Galopp übergehen und dabei immer schneller werden. Bis zum Aufkommen des Films hat kein Künstler diese Technik wirklich besser hinbekommen.
    Woolleys Entdeckungen in Ur in den 1920er Jahren fielen in die ersten Jahre des modernen Staates Irak, der nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches am Ende des Ersten Weltkriegs entstanden war. Eine der zentralen Einrichtungen des neuen Staates war das Nationalmuseum in Bagdad, das den Großteil der Funde von Ur erhielt. Vom ersten Augenblick ihrer Entdeckung an bestand also ein enger Zusammenhang zwischen den Antiquitäten von Ur und der nationalen Identität des Irak. Als das Museum während des jüngsten Krieges im Irak geplündert wurde, erschütterte das alle Menschen im Land zutiefst. Noch einmal Lamia al-Gailani:
    «Für uns Iraker sind diese Objekte Teil der ältesten Kultur – und die gab es in unserem Land und wir sind ihre Nachfahren. Wir identifizieren uns mit

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