Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
bestattet wurden; als weitere Grabbeigaben fand man üppigen und kostbaren Kopfschmuck; eine Leier aus Gold und Lapislazuli; das weltweit erste Brettspiel; und ein mysteriöses Objekt, das Woolley zunächst als Tafel beschrieb:
«In der hintersten Grabkammer fand sich ein höchst bemerkenswertes Ding, eine Tafel, ursprünglich aus Holz, 39 Zentimeter lang und 19 Zentimeter breit, auf beiden Seiten mit einem Mosaik aus Muscheln, roten Steinchen und Lapislazuli besetzt; das Holz war in schlechtem Zustand, so dass wir bisher nicht so genau wissen, was hier dargestellt ist, aber es gibt Reihen von Menschen- und Tiergestalten, und sobald die Tafel gesäubert und restauriert ist, sollte sie sich als eines der tollsten Objekte erweisen, die wir auf dem Friedhof gefunden haben.»
Es handelte sich um einen der faszinierendsten Funde Woolleys. Die «Tafel» war eindeutig ein großes Kunstwerk, aber ihre eigentliche Bedeutung ist nicht ästhetischer Natur: Wirklich wichtig ist, was sie uns über die Machtausübung in diesen frühen mesopotamischen Städten erzählt.
Woolleys Fund hat in etwa die Größe eines kleinen Aktenkoffers, aber er spitzt sich nach oben hin zu – so dass er fast wie ein riesiger Toblerone-Riegel wirkt – und ist durchgängig mit kleinen Mosaikszenen verziert. Woolley bezeichnete ihn als Standarte von Ur, weil er glaubte, das Objekt habe möglicherweise als Kampfstandarte gedient, die man hoch oben auf einer Stange beieiner Prozession oder in einer Schlacht trug. Es hat seinen Namen behalten, aber es ist nur schwer vorstellbar, dass es sich wirklich um eine Art Standarte gehandelt hat, denn die Szenen sind so gestaltet, dass man sie von Nahem betrachten muss. Einige Wissenschaftler meinten, es handle sich möglicherweise um ein Musikinstrument oder auch nur um einen Kasten, in dem wertvolle Dinge aufbewahrt wurden, aber wir wissen es schlicht nicht. Ich fragte Dr. Lamia al-Gailani, eine führende Archäologin aus dem Irak, die heute in London arbeitet, was sie glaubt:
FRIEDEN : Der König und sein Gefolge feiern, während die Menschen zum Dank Fische, Tiere und andere Erzeugnisse spenden.
«Leider wissen wir nicht, wozu das Objekt benutzt wurde, aber für mich steht es quasi stellvertretend für alles, was mit den Sumerern zu tun hat. Es handelt vom Krieg, es handelt vom Frieden, es ist farbenfroh, es zeigt, wie weit die Sumerer in der Welt herumkamen – der Lapislazuli kam aus Afghanistan, der rote Marmor aus Indien, die Muscheln aus der Golfregion.»
Hier liegt der entscheidende Punkt. Bislang bestanden all die Objekte, die wir betrachtet haben, aus einem einzigen Material – aus Stein oder Holz, Knochen oder Keramik, alles Substanzen, die derjenige, der das jeweilige Objekt gefertigt hat, jeweils in seiner unmittelbaren Umgebung gefunden hat. Nun haben wir es zum ersten Mal mit einem Objekt zu tun, das aus mehreren verschiedenen, ziemlich exotischen Materialien besteht, die über große Entfernungen hinweg gehandelt wurden. Nur der Bitumen, der die einzelnen Teilchen zusammenhält, kam wohl auch vor Ort vor; er zeugt von dem, was heute Mesopotamiens größter Quell des Reichtums ist – Öl.
Was für eine Gesellschaft war das, die diese Materialien auf solche Weise zusammentragen konnte? Zunächst einmal musste sie über landwirtschaftliche Überschüsse verfügen. Sodann brauchte sie eine Macht- und Kontrollstruktur, die es den Herrschenden erlaubte, diesen Überschuss zu mobilisieren und entlang ausgedehnter Handelsrouten gegen exotische Materialien einzutauschen. Der Überschuss dürfte zudem Menschen ernährt und ausgehalten haben, die von den Zwängen landwirtschaftlicher Arbeit befreit waren – Priester, Soldaten, Verwaltungsbeamte und, am wichtigsten, Handwerker, die sich auf die Herstellung komplexer Luxusobjekte wie die Standarte spezialisieren konnten. Genau diese Menschen sind auf der Standarte zu sehen.
Die Szenen sind angeordnet wie drei Comicstrips übereinander. Die eine Seiteder Standarte zeigt, wie das Steuersystem funktioniert, das sich ein Herrscher vermutlich erträumt. In den beiden unteren «Lagen» stellen sich Menschen ganz ruhig an, um ihre Tributzahlungen abzuliefern – Agrarprodukte sowie Fische, Schafe, Ziegen und Rinder –, und in der obersten «Zeile» verspeist die Elite, vermutlich Priester, die Einkünfte, während jemand dazu die Leier spielt. Man könnte gar nicht deutlicher vor Augen geführt bekommen, wie die Machtstrukturen in Ur funktionieren: Die
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