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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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und 40.000 Einwohner. Sie waren streng nach schachbrettartigen Entwürfen angelegt und verfügten über sorgfältig ausgearbeitete Wohnungsbau-pläneund fortgeschrittene Sanitärsysteme, zu denen sogar hauseigene Toiletten gehörten; für einen modernen Stadtplaner müssen sie ein Traum gewesen sein. Der Architekt Richard Rogers bewundert sie zutiefst:
    «Wenn man es mit einem Grundstück zu tun hat, für das es nur ganz wenige Einschränkungen gibt, wo nicht viele Gebäude vorhanden sind und das fast wie eine Art unbeschriebenes Blatt Papier ist, dann legt man als Erstes ein Raster drüber, denn man will es in Besitz nehmen, und dazu eignet sich ein Raster gut, es bringt Ordnung in die ganze Sache. Architektur bedeutet nämlich im Grunde, dem Raum Ordnung, Harmonie, Schönheit, Rhythmus zu verschaffen. Und genau das hat man in Harappa gemacht. Das Ganze hat auch ein ästhetisches Element, was man an ihrer Bildhauerkunst erkennen kann – diese Menschen verfügen über ein ästhetisches Bewusstsein, sie haben zudem einen Sinn für Ordnung, für Ökonomie, und diese Dinge verbinden sie über mehr als 5000 Jahre hinweg mit dem, was wir heute tun.»
    Wie wir im Falle von Ägypten und Mesopotamien gesehen haben, bedurfte es für den Sprung vom Dorf zur Stadt gewöhnlich eines dominanten Herrschers, der Zwang ausüben und Ressourcen nutzen konnte. Unklar ist aber gerade, wer diese hochgradig organisierten Städte im Industal regierte. Es gibt keine Hinweise auf Könige oder Pharaonen – oder überhaupt auf irgendwelche Anführer. Das hat im Wortsinne wie metaphorisch in erster Linie damit zu tun, dass wir nicht wissen, wo die Toten bestattet sind. Es gibt nicht die üppigen Grabstätten, die uns in Ägypten und Mesopotamien so viel über die Mächtigen und die Gesellschaft, die sie regierten, erzählen. Vermutlich haben die Menschen im Industal ihre Toten verbrannt, und diese Art der Bestattung mag einiges für sich haben, aber für Archäologen bedeutet sie einen Totalverlust.
    Die Überreste dieser großen Städte der Indus-Kultur liefern uns keine Anhaltspunkte dafür, dass wir es hier mit einer kriegführenden oder vom Krieg bedrohten Gesellschaft zu tun haben. Man hat nur wenige Waffen gefunden, und die Städte scheinen nicht befestigt gewesen zu sein. Es gibt große Gemeinschaftsgebäude, aber nichts, was wie ein Königspalast aussieht, und zwischen den Häusern der Reichen und denen der Armen bestanden offenbar keine großen Unterschiede. Wir haben es also, so scheint es, mit einem deutlich anderen Modell städtischer Zivilisation zu tun, das ohne die Verherrlichung von Gewaltoder eine extreme individuelle Machtkonzentration auskommt. Beruhten diese Gesellschaften also nicht auf Zwang, sondern auf Konsens?
    Wir wüssten deutlich mehr über die Indus-Kultur, wenn wir die Schrift auf unserem Siegel und anderen, ähnlichen, entziffern könnten. Über den Tierdarstellungen auf den Siegeln finden sich eine ganze Reihe von Symbolen: Eines sieht aus wie ein ovaler Schild, andere ähneln menschlichen Streichholzfiguren; es finden sich einige einzelne Striche sowie ein Symbol, das wie ein stehender Speer aussieht. Doch ob es sich dabei um Zahlen, Abbilder, Symbole – oder gar eine Sprache – handelt, wissen wir schlicht nicht. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat man versucht, sie zu entziffern – heutzutage natürlich mit Hilfe von Computern –, aber wir verfügen einfach nicht über genügend Material – keine längeren Inschriften, keine zweisprachigen Texte –, um auf wirkliche Fortschritte hoffen zu können.
    Die Siegel weisen häufig ein Loch auf, was darauf schließen lässt, dass sie von ihren Besitzern vermutlich getragen wurden, und verwendet hat man sie wohl, um Handelsgüter zu kennzeichnen – man hat sie im Irak, in Iran, Afghanistan und Zentralasien gefunden. Zwischen 3000 und 2000 v. Chr. bestand die Indus-Kultur aus einem riesigen Netzwerk komplexer, gut organisierter Städte, die gut gehende Handelsbeziehungen mit aller Welt unterhielten und offenbar durchweg florierten. Doch dann, um 1900 v. Chr., war es damit vorbei. Die Städte verwandelten sich in Erdhügel, und selbst die Erinnerung an eine der bedeutenden frühen Stadtkulturen dieser Welt verschwand. Warum das so war, darüber können wir allenfalls Mutmaßungen anstellen. Vielleicht hat der enorme Bedarf an Holz, mit dem die Ziegelbrennereien der riesigen Bauindustrie befeuert wurden, zu einer übermäßigen Entwaldung und damit zu einer

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