Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
Umweltkatastrophe geführt. Entscheidender aber war vermutlich, dass Nebenflüsse des Indus aufgrund von Klimaveränderungen ihren Lauf geändert haben oder vollständig ausgetrocknet sind.
Als die ersten Überreste der alten Indus-Kultur ausgegraben wurden, stand der gesamte Subkontinent unter britischer Kolonialherrschaft, doch heute umfasst ihr Territorium Pakistan und Indien. Professor Nayanjot Lahiri, Expertin für die Indus-Kultur an der Delhi University, macht deutlich, welche Bedeutung sie heute für beide Länder besitzt:
«Im Jahr 1924, als die Kultur entdeckt wurde, war Indien eine Kolonie. So herrschten gleich von Anfang an ein großer Nationalstolz und das Gefühl, dass wir genauso gut, wenn nicht sogar besser sind als unsere Kolonisatoren und die Briten angesichts dessen Indien am besten verlassen sollten. Genau dieses Gefühl wurde in der
Larkana Gazette
zum Ausdruck gebracht – und Larkana ist der Bezirk, in dem Mohenjo-Daro liegt.
Nach Erlangen der Unabhängigkeit verfügte der neu geschaffene Staat Indien nur über eine Ausgrabungsstätte der Indus-Kultur in Gujarat und ein paar weitere im Norden, also mussten dringend weitere Indus-Stätten in Indien gefunden werden. Das gehört denn auch zu den großen Leistungen der indischen Archäologie nach der Unabhängigkeit – dass man heute Hunderte von Indus-Ausgrabungsstätten kennt, nicht nur in Gujarat, sondern auch in Rajasthan, im Punjab, in Haryana und sogar in Uttar Pradesh.
Die großen Städte Harappa und Mohenjo-Daro, die zuerst ausgegraben wurden, liegen auf pakistanischem Territorium, und nicht zuletzt deshalb stammt eine der wichtigsten Arbeiten zur Indus-Kultur von einem Archäologen aus Pakistan – von Rafique Mughal [der gegenwärtig in Boston lehrt], der fast 200 Stätten in Pakistan und in der Wüste von Cholistan entdeckte. Ich persönlich habe das Gefühl, dass sich der pakistanische Staat insgesamt deutlich stärker für sein islamisches Erbe interessiert, und insofern glaube ich, dass das Interesse an der Indus-Kultur in Indien stärker ausgeprägt ist als in unserem Nachbarland.
Wenn ich an Indien, Pakistan und die Indus-Zivilisation denke, dann erfüllt mich ein Gefühl nicht von Konkurrenz, sondern von Schmerz, denn die bedeutenden Überreste – die Artefakte, die Keramik, die Perlen usw., die an diesen Ausgrabungsstätten gefunden wurden – sind unter den beiden Staaten aufgeteilt. Einige der wichtigsten Objekte wurden tatsächlich in der Mitte geteilt, wie etwa der berühmte Gürtel von Mohenjo-Daro. Er ist nicht mehr eins, sondern wurde in zwei Teile geteilt, so wie das koloniale Indien in Indien und Pakistan geteilt wurde – diesen Objekten war ein ähnliches Schicksal beschieden.»
Wir müssen noch mehr über diese großen Indus-Städte in Erfahrung bringen, und unser Wissen darüber nimmt auch stetig zu, aber der große Durchbruch wäre natürlich erst geschafft, wenn wir die Zeichen auf den Siegeln entziffern könnten. Also müssen wir abwarten. In der Zwischenzeit erinnert uns das völlige Verschwinden dieser großen urbanen Gesellschaften auf unangenehme Weise daran, wie fragil unser eigenes städtisches Leben – ja, unsere eigene Kultur – auch heute noch ist.
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Jadebeil
Jadebeil, gefunden in der Nähe von Canterbury, England
4000–2000 v. Chr.
Auf den Britischen Inseln zu leben bedeutete im Verlauf der Geschichte überwiegend, am Rande der Welt zu leben. Das heißt jedoch nicht, dass sie von der Welt abgeschnitten gewesen wären.
Wir haben gesehen, wie vor gut 5000 Jahren entlang einiger großer Flüsse dieser Welt Städte und Staaten entstanden, in Ägypten, Mesopotamien, Indien und Pakistan. Die dort entwickelte Form von politischer Führung, ihre Architektur, ihre Schriftsysteme und die internationalen Handelsnetze sorgten dafür, dass dort neue Fertigkeiten entstanden und neue Materialien genutzt werden konnten. In der Welt jenseits dieser großen Flusstäler sah die Sache freilich ganz anders aus. Von China bis zu den Britischen Inseln lebten die Menschen weiterhin in relativ überschaubaren Agrargemeinschaften, die weder die Probleme der neuen, großen urbanen Zentren kannten noch deren Chancen boten. Gemeinsam war beiden Lebenswelten jedoch eine Vorliebe für das Teure und Exotische. Und dank etablierter Handelswege konnte man sogar in Britannien, am äußersten Rand der eurasischen Landmasse, schon vor langer Zeit bekommen, was das Herz begehrte.
Im Canterbury des Jahres 4000 v. Chr.
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