Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
war dieses polierte Jadebeil höchstes Objekt der Begierde. Auf den ersten Blick wirkt es wie unzählige andere Stein äxte in der Sammlung des Britischen Museums, aber dieses hier ist dünner und breiter als die meisten anderen. Es sieht noch immer nagelneu aus – und es ist ziemlich scharf. Es hat die Form einer Träne, ist etwa 21 Zentimeter lang und an der Unterseite acht Zentimeter breit. Wenn man es anfasst, fühlt es sich angenehm kühl und außerordentlich glatt an.
Äxten und Beilen kommt in der Menschheitsgeschichte eine besondere Rolle zu, wie wir zu Beginn dieses Buches schon erfahren haben. Es dauerte Generationen, bis sich die Agrarrevolution vom Nahen und Mittleren Osten bis nach Kontinentaleuropa ausbreitete, doch vor gut 6000 Jahren erreichten tatsächlich Siedler in aus Häuten gefertigten Booten die britische und die irische Küste, und sie brachten Saatgut für Getreide und domestizierte Tiere mit. Dichte Wälder bedeckten damals das Land. Nur mit Hilfe von Steinäxten konnten sie die Flächen freischlagen, die sie brauchten, um ihr Saatgut auszubringen und ihr Vieh weiden zu lassen. Für sich selbst schufen die Siedler mit Äxten eine Welt aus Holz: Sie fällten Bäume und bauten daraus Zäune und Wege, Häuser und Boote. Es waren die gleichen Menschen, die später dann Monumente wie das erste Stonehenge errichten sollten. Steinerne Äxte waren das revolutionäre Werkzeug, das es unseren Vorfahren ermöglichte, aus England ein grünes und ansehnliches Stück Land zu machen.
Äxte wie diese verfügen normalerweise über einen Schaft – das heißt, sie werden in einen langen Holzstiel eingepasst und wie eine moderne Axt verwendet. Es ist jedoch unschwer zu erkennen, dass unser Beil nie einen Schaft hatte – mehr noch, es zeigt überhaupt keine Gebrauchsspuren. Wenn ich mit dem Finger sanft über die Schneide fahre, spüre ich nicht die geringste Unebenheit. Die langen, planen Oberflächen sind bemerkenswert glatt und glänzen noch immer wie ein Spiegel.
Angesichts dessen drängt sich ein Schluss förmlich auf. Unser Beil wurde nicht nur nicht benutzt – es war nie dazu gedacht, als Beil gebraucht zu werden, sondern sollte Bewunderung wecken. Mark Edmonds von der York University erläutert, wie dieses großartige Prestigeobjekt hergestellt wurde:
«Wer das Glück hat, eine dieser Äxte anfassen zu dürfen – wer spürt, wie sie in der Hand liegt, wer ihre Symmetrie, ihr Gewicht, ihre Glätte fühlt –, wird erstaunt sein, wie extrem glatt poliert sie ist. Um das zu erreichen, ist sie stundenlang an einem Stein gewetzt, dann mit feinem Sand oder Lehm und Wasser poliert und schließlich in der Hand hin und her gerieben worden, vielleicht mit Fett und Blättern. Das dauert tagelang. Es verleiht der Schneide erst wirkliche Schärfe und Robustheit, betont aber auch die Form, ermöglicht deren Kontrolle und fördert die außerordentliche grüne und schwarze Sprenkelung des Stein zutage – die Axtist auf einen Blick zu erkennen und bietet einen bestechenden Anblick. Solche Dinge sind für diese spezifische Axt vermutlich ebenso wichtig wie die Schneide.»
Das Aufregendste an diesem Beilkopf ist jedoch nicht, wie er hergestellt wurde, sondern woraus er gemacht ist. Ihm fehlen die üblichen grau-braunen Töne, die man bei britischen Steinen und Kieseln findet, stattdessen ist er von einem wunderschönen, markanten Grün. Dieses Beil ist aus Jade gefertigt.
Auf britischem Boden kommt Jade selbstverständlich nicht vor – uns gilt es als ein exotisches Material aus dem Fernen Osten oder aus Mittelamerika; sowohl für die chinesische als auch für die zentralamerikanische Kultur war Jade bekanntermaßen wertvoller als Gold. Diese Quellen sind mehrere tausend Kilometer von den Britischen Inseln entfernt, weshalb Archäologen sich jahrelang den Kopf darüber zerbrachen, wie die Jade von dort nach Europa gelangt war. Es gibt jedoch auch Jadevorkommen auf dem europäischen Festland, und erst vor ein paar Jahren – nämlich 2003, also gut 6000 Jahre nachdem unser Beilkopf hergestellt wurde – hat man den genauen Ursprungsort des Steins, aus dem er gefertigt ist, ausfindig gemacht. In Wirklichkeit kommt dieser Luxusgegenstand aus Italien.
Die Archäologen Pierre und Anne-Marie Pétrequin waren zwölf lange Jahre damit beschäftigt, die Gebirgsregionen der italienischen Alpen und des nördlichen Apennin abzusuchen und zu erkunden. Schließlich aber fanden sie die prähistorischen Jadesteinbrüche, aus
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