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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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organisierte von dort aus die Unmenge an Arbeitern und Handwerkern, die Kleider woben und die importierten Materialien Gold, Elfenbein und Bronze weiterverarbeiteten. Ohne diese ganze Gesellschaft geschickter Handwerker gäbe es unseren Stierspringer nicht.
    Fresken im Palast von Knossos zeigen große Menschenansammlungen, was darauf schließen lässt, dass es sich bei diesen Gebäuden auch um zeremonielle und religiöse Zentren handelte. Doch obwohl auf Kreta schon seit über hundert Jahren gegraben wird, bleiben die Minoer bis heute bemerkenswert rätselhaft, und unser Wissen über sie ist frustrierend bruchstückhaft. Objekte wie diese kleine Bronzestatue erzählen uns viel über einen bestimmten Aspekt der Geschichte Kretas – seine zentrale Rolle bei der Metallverarbeitung, die binnen weniger Jahrhunderte die gesamte Welt verändert hat. Sie bestätigt zudem die anhaltende Faszination des mythologischen Kreta als des Ortes, wo wir mit den verstörendsten Verbindungen zwischen Mensch und Tier konfrontiert sind. Als Picasso in den 1920er und 1930er Jahren die animalischen Elemente erkunden wollte, welche die europäische Politik in den Abgrund trieben, wandte er sich instinktiv dem Palast des minoischen Kreta zu, diesem unterirdischen Labyrinth und dieser Begegnung von Mensch und Stier, die uns bis heute nicht loslässt – dem Kampf des Theseus mit dem Minotaurus.

19
Der goldene Schulterkragen aus Mold
    Fein gearbeitetes Gold-Cape, gefunden in Mold, Nordwales
1900–1600 v. Chr.
    Auf die Arbeiter des Ortes muss es gewirkt haben, als wären die alten walisischen Sagen wahr geworden. Sie waren auf ein Feld namens Bryn-yr-Ellyllon geschickt worden, was so viel heißt wie Elfen- oder Koboldshügel, um dort Gestein abzubauen. Reisende mieden den Hügel nach Einbruch der Dunkelheit, denn es ging das Gerücht, man habe dort schon oft des Nachts einen Geisterjungen gesehen, der ganz in Gold gekleidet war und im Mondschein leuchtete. Als die Männer einen großen Erdhügel abtragen wollten, stießen sie auf ein Steingrab. Darin fanden sich Hunderte von Bernsteinperlen, Stücke von Blattbronze und die Überreste eines Skeletts. Dem Skelett war ein seltsames, zerdrücktes Objekt übergestülpt – eine große und fein verzierte zerbrochene Platte aus reinem Gold.
    Dieses atemberaubende Objekt ist ein goldener Schulterkragen oder vielleicht genauer ein kurzer Poncho aus Gold. Aber wir bezeichnen es als Cape. Es handelt sich um einen Umhang aus punziertem Gold für die Schultern eines Menschen. Er ist rund 45 Zentimeter breit und 30 Zentimeter tief, und man dürfte ihn über den Kopf gestülpt und dann auf die Schultern herabgelassen haben, von wo er dann bis etwa zur Mitte der Brust reichte.
    Betrachtet man das Cape genauer, so erkennt man, dass es aus einer einzigen Platte erstaunlich dünnen Goldes gemacht ist. Das Ganze wurde aus einem Barren gefertigt, der ungefähr die Größe eines Tischtennisballs hatte. Die Platte wurde dann von innen bearbeitet und ausgestanzt – so dass das Cape aussieht, als würden fein säuberlich angeordnete Perlenschnüre von einer Schulter zur anderen und um den ganzen Körper herum laufen. Auf den heutigen Betrachterwirkt es vor allem unglaublich kleinteilig und höchst luxuriös. Die Steinhauer, die es gefunden haben, müssen sprachlos gewesen sein.

    Die Arbeiter machten ihre Entdeckung am Bryn-yr-Ellyllon im Jahr 1833. Unbeeindruckt von allen Gedanken an Geister oder Kobolde und erfreut über den sagenhaften Wert ihres Fundes verteilten die Arbeiter den goldenen Schulterkragen sofort untereinander, wobei der Bauer, dem der Acker gehörte, sich den Löwenanteil sicherte. Damit hätte die Geschichte auch schon zu Ende sein können. Grabstätten aus ferner Vergangenheit mochten noch so exotisch sein, genossen damals aber kaum rechtlichen Schutz. Dass sich die Grabstätte in der Nähe der Stadt Mold befand, nicht weit entfernt von der Nordküste von Wales, hieß, dass die Welt möglicherweise niemals von diesem Fund erfahren hätte. Dass es anders kam, ist der Neugier des örtlichen Pfarrers Reverend C. B. Clough zu verdanken; er verfasste einen Bericht über den Fund, der das Interesse der Society of Antiquaries in London erregte, der Gesellschaft der Altertumsforscher.
    Drei Jahre nachdem die Beute aus dem Grab verteilt worden war, erwarb das Britische Museum von dem Bauern, dem das Feld gehörte, das erste und größte der Bruchstücke, das er sich gesichert hatte. Vieles von dem, was

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