Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
hatte sich Zeus in einen Stier verwandelt. Die Frau des Minos wiederum hegte eine unnatürliche Zuneigung zu einem wunderschönen Stier, und Frucht dieser Leidenschaft war Minotaurus, halb Mensch, halb Stier. Minos schämte sich dermaßen für seinen monströsen Stiefsohn, dass er ihn in ein unterirdisches Labyrinth sperrte, und dort verschlang Minotaurus regelmäßig Knaben und Mädchen, die alle neun Jahre aus Athen geschickt wurden – bis ihn der griechische Held Theseus erschlug. Die Geschichte von Theseus und Minotaurus, vom Menschen, der seine monströsen Dämonen zunächst begräbt, sich ihnen stellt und sie schließlich besiegt, ist jahrhundertelang immer wieder erzählt worden, von Ovid, von Plutarch, von Vergil und anderen. Sie gehört zum Kernbestand der griechischen Mythologie, der Freud’schen Psychologie und der europäischen Kunst.
Auch Archäologen waren von diesen Geschichten fasziniert. Als Arthur Evans vor gut hundert Jahren die Insel erkundete und beschloss, bei Knossos mit seinen Grabungen zu beginnen, hatte er die Stiere und Ungeheuer, die Paläste und Labyrinthe Kretas im Kopf. Zwar wissen wir nicht, wie sich die Menschen dieser reichen Kultur um 1700 v. Chr. selbst nannten, doch Evans, der glaubte, die Welt des Minos entdeckt zu haben, gab ihnen einfach den Namen Minoer, und so heißen sie seither bei den Archäologen. Bei seinen umfangreichen Ausgrabungen entdeckte Evans die Überreste eines riesigen Gebäudekomplexes und fand darin Töpferwaren und Schmuck, Siegelsteine, Elfenbein, Gold und Bronze sowie farbigeFresken, auf denen häufig Stiere dargestellt waren; und er versuchte diese Funde im Lichte der vertrauten Mythen zu deuten. Er wollte unbedingt herausfinden, welche Rolle die Stiere für Wirtschaft und Zeremonien auf der Insel gespielt hatten, und so erregte es sein besonderes Interesse, als ein wenig entfernt von Knossos der minoische Stierspringer gefunden wurde.
Man vermutet, dass er aus Rethymnon stammt, einer Küstenstadt im Norden der Insel, und ursprünglich als Opfergabe in einem Heiligtum auf den Bergen oder in einer Höhle stand. Objekte wie dieses findet man häufig an diesen heiligen Stätten Kretas, was vermuten lässt, dass das Vieh bei den örtlichen Glaubensritualen eine wichtige Rolle spielte. Seit den Zeiten von Evans haben viele Wissenschaftler zu erklären versucht, warum diese Darstellungen so bedeutsam waren. Sie fragten, wozu das Stierspringen diente und ob es überhaupt möglich war. Evans glaubte, es gehöre zu einem Fest zu Ehren der Muttergöttin. Andere verwerfen diese Vorstellung, doch das Stierspringen wurde oft als religiöse Darbietung betrachtet, zu der möglicherweise die Opferung des Tieres und mitunter sogar der Tod des Springers gehörten. Eines zumindest steht fest: In dieser Skulptur spielen Stier wie Mensch ein höchst gefährliches Spiel. Über die Tiere hinwegzuspringen erforderte monatelanges Üben. Das lässt sich mit ziemlicher Sicherheit sagen, denn diesen Sport gibt es bis heute in einigen Teilen Frankreichs und Spaniens. Sergio Delgado, einer der besten Stierspringer von heute – oder, um den spanischen Begriff zu verwenden,
recortador
–, erläutert, wie das Ganze funktioniert:
«Es gab schon immer eine Art Spiel zwischen Menschen und Stieren, schon immer. Für
recortadores
gibt es keine Schule im eigentlichen Sinne. Man lernt einfach, wie man das Tier versteht und wie es auf die Arena reagieren wird. Dieses Wissen erwirbt man allein durch Erfahrung.
Wir mussten vor allem drei Techniken erlernen: erstens den
recorte de ri
ñón [den «Nierenschnitt»]; zweitens den
quiebro
[das «Ausweichen»]; und drittens den
salto
[oder «Sprung»], was vor allem bedeutet, in verschiedenen Stilarten über den Stier zu springen.
Die Stiere werden, anders als beim Stierkampf, vor der Begegnung nicht verwundet. Der Stier stirbt nie in der Arena. Wir riskieren dabei unser Leben, wir werden genauso oft durchbohrt und aufgespießt wie Toreros. Der Stier ist unberechenbar. Er ist es, der das Sagen hat. Man darf niemals den Respekt vor ihm verlieren.»
Diese bis heute anhaltende Verehrung des Stiers ist ein faszinierendes Echo auf die Vermutung einiger Wissenschaftler, das Stierspringen auf Kreta habe zur Zeit dieser kleinen Statue eine religiöse Bedeutung gehabt. Nicht zuletzt die wertvolle Bronze, aus der sie besteht, legt nahe, dass es sich um eine Gabe an die Götter gehandelt hat.
Die Skulptur wurde um 1700 v. Chr. gefertigt, inmitten
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