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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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Ton im Boden mehrere tausend Jahre lang sehr gut. Was die ägyptische Mathematik angeht, verfügen wir über vielleicht sechs, maximal zehn schriftliche Zeugnisse, und das umfassendste ist ohne Zweifel der Rhind-Papyrus.»
    Für mich ist dieser Papyrus deshalb so besonders bemerkenswert, weil wir mit seiner Hilfe den skurrilen Einzelheiten des Alltagslebens zur Pharaonenzeit ganz nahe kommen, nicht zuletzt den kulinarischen Aspekten. So erfahren wir, dasseine Gans, die man zwangsernährt, fünfmal so viel Futter braucht wie eine, die frei herumläuft. Aßen die Ägypter also Gänsestopfleber? Im alten Ägypten scheint es zudem schon Geflügelbatterien gegeben zu haben, denn wie wir erfahren, benötigen Gänse, die in einem Käfig gehalten werden – vermutlich ohne sich dort bewegen zu können –, nur ein Viertel so viel Futter wie ihre freilaufenden Artgenossen und sind deshalb viel billiger für den Verkauf zu mästen.
    Zwischen Bier und Brot und der hypothetischen Gänseleber erkennt man die logistische Infrastruktur eines stabilen und mächtigen Staates, der für öffentliche Bauvorhaben und militärische Feldzüge ungeheure menschliche und ökonomische Ressourcen mobilisieren konnte. Das Ägypten der Pharaonen war für seine Zeitgenossen ein Land der Superlative – Besucher aus dem gesamten Nahen Osten staunten über die kolossalen Dimensionen seiner Bauten und Skulpturen, und auch uns Heutigen ergeht es nicht viel anders. Wie alle erfolgreichen Staaten, damals wie heute, brauchte auch Ägypten Menschen, die rechnen konnten.
    Und wenn Sie sich jetzt noch immer den Kopf zerbrechen über das Rätsel mit den Katzen und den Mäusen und den Getreidekörnern, mit dem dieses Kapitel begann, sei Ihnen jetzt die Lösung verraten: Das richtige Ergebnis lautet 19.607.
    «Es gibt sieben Häuser, in jedem Haus leben sieben Katzen …»



18
Minoischer Stierspringer
    Bronzestatuette mit Stier und Akrobat, gefunden auf Kreta, Griechenland
1700–1450 v. Chr.
    Diese kleine Bronzeskulptur eines Stieres mit einer Figur, die über ihn hinweg springt, gehört heute zu den Glanzlichtern in der Minoischen Sammlung des Britischen Museums. Sie stammt von der Mittelmeerinsel Kreta, wo sie vor rund 3700 Jahren gefertigt wurde.
    Stier wie Springer sind aus Bronze, und zusammen sind sie rund 5 Zentimeter lang und zwischen 10 und 13 Zentimeter hoch. Der Stier befindet sich im vollen Lauf – Beine gestreckt und Kopf erhoben –, und die Figur springt in einem eleganten Salto über ihn hinweg. Vermutlich handelt es sich um einen jungen Mann. Er hat den Stier an den Hörnern gepackt und seinen Körper nach oben katapultiert, so dass wir ihn genau in dem Moment sehen, da sich sein Körper in voller Streckung befindet. Die beiden Figuren treten quasi in einen Dialog: Die nach außen gerichtete Krümmung des Körpers des Jungen wird von der nach innen gerichteten Krümmung des Stierrückens «beantwortet» und aufgefangen. Wir haben es mit einer höchst dynamischen und wunderschönen Skulptur zu tun, und sie versetzt uns mitten hinein in die Realität – und, ebenso wichtig, den Mythos – der Geschichte Kretas.
    Die Skulptur stellt buchstäblich etwas dar, was für die meisten Menschen heute nur eine Metapher ist – «den Stier bei den Hörnern packen«, das ist es, was wir sprichwörtlich tun sollen, wenn wir mit den großen moralischen Fragen des Lebens konfrontiert sind. Doch die Archäologie vermutet, dass vor rund 4000 Jahren eine ganze Kultur kollektiv fasziniert war von der Vorstellung und dem konkreten Akt, sich dem Stier entgegenzustellen. Warum das so war, ist eines des vielen Rätsel einer Gesellschaft, die sich an der Schnittstelle von Afrika, Asienund Europa befand und eine prägende Rolle für die Region spielte, die wir heute als Nahen Osten bezeichnen. Der Dichter Homer beschrieb diese Gesellschaft in seiner
Odyssee
(XIX, 172–179) so:
    «Kreta ist ein Land im dunkelwogenden Meere,
    Fruchtbar und anmutsvoll und ringsumflossen. Es wohnen
    Dort unzählige Menschen, und ihrer Städte sind neunzig:
    Völker von mancherlei Stamm und mancherlei Sprachen. …
    Ihrer Könige Stadt ist Knossos, wo Minos geherrscht hat,
    Der neunjährig mit Zeus, dem großen Gotte, geredet.»
    In der griechischen Mythologie hatte Minos, der Herrscher von Kreta, ein recht vielschichtiges Verhältnis zu Stieren. Er war der Sohn der wunderschönen Europa und des Zeus, des Königs der Götter, doch um sein Vater zu werden und Europa zu verführen,

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