Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
der Pfarrer verzeichnet hatte, war bis dahin bereits verschwunden, darunter quasi das gesamte Skelett. Übrig waren nur noch drei große und zwölf kleine zerbrochene und platt gedrückte Stücke des verzierten Goldobjekts. Es dauerte noch einmal hundert Jahre, bis das Britische Museum genügend von den übriggebliebenen Bruchstücken zusammengetragen hatte (einige fehlen bis heute), um mit einer vollständigen Rekonstruktion dieses zerteilten Schatzes beginnen zu können.
Was war das für ein Objekt, das diese Bruchstücke einstmals bildeten? Wann wurde es gefertigt? Wer hat es getragen? Im Zuge weiterer archäologischer Entdeckungen im 19. Jahrhundert wurde deutlich, dass die Grabstätte von Mold aus der Bronzezeit stammt – und damit rund 4000 Jahre alt ist. Doch erst in den 1960er Jahren wurden die einzelnen Teile des «Goldstücks» erstmals zusammengesetzt. Die Konservatoren verfügten einzig und allein über platt gedrückte Fragmente papierdünnen Goldes; sie waren unterschiedlich groß, wiesen allesamt Risse, Bruchstellen und Löcher auf und wogen insgesamt nur rund ein Pfund. Es war wie ein dreidimensionales Puzzlespiel, das nur zu Ende gebracht werdenkonnte, indem man die antiken Techniken der Goldbearbeitung, die seit Jahrtausenden verloren waren, noch einmal neu lernte.
Wir wissen nicht, wer dieses Cape hergestellt hat, aber diejenigen müssen über hoch entwickelte Fertigkeiten verfügt haben. Man könnte sie durchaus als die Cartiers oder die Tiffanys der Bronzezeit bezeichnen. Welche Art von Gesellschaft produziert ein solches Objekt? Allein schon seine Opulenz und die ausgeklügelten Details lassen darauf schließen, dass es aus einem Zentrum großen Reichtums und enormer Macht stammt, das sich vielleicht mit den zeitgenössischen Höfen der Pharaonen in Ägypten oder den Palästen des minoischen Kreta vergleichen lässt. Und die Sorgfalt, mit der ein so ausgefallenes Design entworfen und geplant werden muss, weist auf eine lange Tradition der Produktion von Luxusgütern hin.
Doch die Archäologie hat für diese Zeit nirgendwo in Großbritannien entsprechende Paläste, Städte oder Königreiche gefunden. Es gibt die riesigen Kultstätten von Stonehenge und Avebury sowie Hunderte von Steinkreisen und Tausende von Grabhügeln, die damals die Landschaft dominiert haben, aber so gut wie keine Überreste von Wohnstätten oder Behausungen, und das, was erhalten ist, lässt auf recht bescheidene Verhältnisse schließen – strohgedeckte Holzhütten, wie wir sie üblicherweise von agrarischen Stammesgesellschaften mit Stammesführern an der Spitze kennen.
In der Vergangenheit war es ein Leichtes, die prähistorischen Gesellschaften auf den Britischen Inseln als primitive Völker abzutun, die schon existierten, bevor deutlich erkennbare Kulturen und Zivilisationen entstanden; und derartige Vermutungen schienen durchaus naheliegend zu sein angesichts der Tatsache, dass die Archäologie lediglich über ein paar Siedlungen und ansonsten nur Gräber verfügte. Doch seit einigen Jahren sieht man diese Gesellschaften in ganz anderem Licht, wozu nicht zuletzt die Entdeckung seltener Objekte wie unseres Capes beigetragen hat. Denn der goldene Schulterkragen aus Mold ist zwar einzigartig in seiner Komplexität, aber doch nur eines von mehreren wertvollen Objekten, die uns verraten, dass die Gesellschaften auf den Britischen Inseln damals äußerst hoch entwickelt gewesen sein müssen, sowohl was ihre handwerklichen Fähigkeiten als auch was ihre Sozialstruktur angeht. Sie verraten uns auch – wie etwa das Jadebeil aus Canterbury (Kapitel 14) –, dass diese Gesellschaftennicht isoliert, sondern Teile eines umfassenderen europäischen Handelsnetzes waren. So muss beispielsweise die Sammlung kleiner Bernsteinperlen, die man zusammen mit dem Cape gefunden hat, aus dem Ostseeraum stammen – Hunderte Kilometer entfernt von Mold.
Mit Hilfe dieser wertvollen Objekte – aus Gold, Bernstein und vor allem Bronze – können wir ein Handels- und Tauschnetzwerk rekonstruieren, das vom nördlichen Wales bis nach Skandinavien und sogar in den Mittelmeerraum reichte. Wir können zudem die Quelle des Reichtums ausmachen, die diesen Handel ermöglichte. Denn der Ort, an dem das Cape von Mold begraben wurde, liegt in der Nähe der größten bronzezeitlichen Kupfermine Nordwesteuropas, nämlich der von Great Orme. Das Kupfer von dort und das Zinn aus Cornwall dürften die Zutaten für die allermeisten britischen
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