Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
nur ein Mix aus Nord und Süd, sondern ein weit komplexeres Stück politischer Symbolik, das auch noch die Gegenwart mit einer lange zurückliegenden Vergangenheit verbindet. Die Form der Mähne und die Ohren des Löwen erinnern stark an Elemente, die man bei altägyptischen Sphingen aus der Zeit der 12. Dynastie gefunden hat, also rund 1000 Jahre vor unserer Sphinx. Die Botschaft, die hier vermittelt wird, ist eindeutig: Dieser schwarze Pharao, Taharqa, steht in einer langen Reihe großer ägyptischer Herrschergestalten, die all die Regionen am Nil regiert haben.
Taharqa wollte Ägypten über den Sinai und die Grenze im Nordosten hinaus ausdehnen. Diese aggressive Politik führte zum Konflikt mit dem Assyrer-König Sanherib (dessen Steinrelief in Kapitel 21 vorgestellt wurde). Um 700 v. Chr. verbündeten sich die Kuschiten mit Hiskias, dem König von Juda, und kämpften an dessen Seite.
Doch diese Provokation der assyrischen Kriegsmaschinerie führte schließlich zum Sturz Taharqas. Zehn Jahre später kamen die Assyrer zu ihm, auf der Suche nach dem legendären Reichtum Ägyptens; zwar konnte er sie noch einmal zurückschlagen, doch sie kehrten bald zurück. Im Jahr 671 v. Chr. zwangen sie Taharqa zur Flucht in den Süden, ins ursprüngliche Reich von Kusch. Seine Frau und seinen Sohn verlor er an den Feind, und nach weiteren Angriffen der Assyrer wurde er schließlich endgültig vertrieben.
In der langen Geschichte Ägyptens war die Herrschaft der Kuschiten nur ein kurzes Zwischenspiel von nicht einmal 150 Jahren. Doch sie erinnert uns daran, dass die Grenze zwischen dem heutigen Ägypten und dem heutigen Sudan schonimmer eine geographische wie auch politische Bruchlinie war, die die Völker des Niltals zumeist trennte und die häufig umkämpft war. Wir werden dieser Bruchlinie im Verlauf dieses Buches noch zweimal begegnen (in den Kapiteln 35 und 94), denn sowohl das Römische Reich als auch das britische Empire verhalfen dieser umstrittenen Grenze zwischen Ägypten und dem Reich von Kusch noch einmal zu einer blutigen Renaissance. Die Geographie hat dafür gesorgt, dass dies stets eine Grenze sein wird, denn hier spaltet der erste Katarakt den Nil in kleine, felsige Kanäle, die mit Booten oder gar Schiffen kaum zu befahren sind und den Kontakt zwischen Nord und Süd höchst problematisch machen. Für Afrikaner war der Nil niemals nur ein ägyptischer Fluss, und von den Sudanesen wird er heute ebenso vehement für sich beansprucht wie zu Taharqas Zeit. Die aus dem Sudan stammende Rundfunk- und Fernsehjournalistin Zeinab Badawi sieht das als Grund für die Spannungen zwischen zwei Völkern, die im Grunde ganz ähnlich sind:
«Ich würde nicht behaupten, dass es zwischen der sudanesischen und der ägyptischen Regierung große ideologische Differenzen gibt, und zwischen den Menschen besteht sogar eine ausgeprägte Affinität. Hauptgrund für die Reibungen und die potenziellen Spannungen zwischen Ägypten und Sudan waren seit jeher der Nil und die Frage, wie sein Wasser genutzt wird. Viele Nordsudanesen haben möglicherweise das Gefühl, dass der Nil viel länger durch den Sudan fließt als durch Ägypten. Der Sudan ist das größte Land Afrikas. Er ist das zehntgrößte Land der Welt und genauso groß wie Westeuropa. Der Sudan ist das Land des Nils, und vielleicht besteht seitens der Nordsudanesen eine Art brüderlicher Groll darüber, dass die Ägypter den Nil in gewisser Weise für sich vereinnahmt haben, wo die Sudanesen sich doch für die eigentlichen Wächter des Nils halten, denn schließlich fließt er auf seiner langen Reise Richtung Mittelmeer überwiegend durch sudanesisches Territorium.»
Das erklärt vielleicht, warum die Einheit von Ägypten und dem Sudan vor nicht ganz 3000 Jahren in Form der Sphinx des Taharqa leichter zu verwirklichen war als in der instabilen Welt praktischer Politik. Die Wiederentdeckung der Geschichte von Kusch gehört zu den großen Leistungen der jüngsten Archäologie, und sie zeigt, wie ein energisches Volk aus der Peripherie eines großen Imperiums dieses Reich erobern und sich dessen Traditionen aneignen konnte. Eine ganz ähnliche Geschichte trug sich fast zur gleichen Zeit an einem ganz anderen Ort zu, nämlich in China. Von dort stammt unser nächstes Objekt.
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Chinesisches Ritualgefäß aus der Zhou-Zeit
Bronze-gui, gefunden in Westchina
1100–1000 v. Chr.
Wie oft speist man mit den Toten? Diese Frage mag seltsam anmuten, doch für einen Chinesen
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