Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
mit, soviel sie tragen können. Diese Prozession von Menschen, die ihren irdischen Besitz dabei haben und sich auf dem Weg in die Gefangenschaft befinden, ist vermutlich eine der frühesten Darstellungen von Flüchtlingen. Ihr Anblick schmerzt beinahe unerträglich und lässt einen unweigerlichan die Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen denken, die diese Region über Jahrhunderte – und bis heute – erlebt hat.
Wir haben das Lachisch-Relief Lord Ashdown gezeigt, einem Militär, Politiker und Diplomaten, der über eine lange Erfahrung mit den menschlichen Kosten militärischer Konflikte verfügt, vor allem aufgrund seiner Arbeit auf dem Balkan:
«Ich habe überall auf dem Balkan Flüchtlingslager erlebt, und offen gestanden traten mir dabei fast immer die Tränen in die Augen, denn ich sah in diesen Menschen meine Schwester und meine Mutter und meine Frau und meine Kinder. Ich erlebte, wie Serben von Bosniern vertrieben wurden, Bosnier von Kroaten, Kroaten von Serben und so weiter. Ich sah die erbärmlichsten Flüchtlinge von allen, die Roma, ein riesiges Lager voller Roma, 40.000 oder 50.000 vielleicht, und sie wurden deportiert, während meine Armee, die Nato, dort Verantwortung trug. Und wir schauten tatenlos zu, als ihre Häuser angezündet und sie aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Das machte mich nicht nur unglaublich traurig, sondern beschämte mich zutiefst. Natürlich gibt es – und das Relief zeigt das – in einem gewissen Sinne so etwas wie die unabänderliche Natur des Krieges. Es gibt immer Kriege, es gibt immer Tote, es gibt immer Flüchtlinge. Flüchtlinge sind üblicherweise so eine Art Strandgut des Krieges. Sie bleiben dort zurück, wo sie nach Ende des Krieges angespült wurden.»
Die auf dem Relief dargestellten Menschen sind die Opfer des Krieges, die den Preis für die Rebellion ihres Herrschers zahlen. Familien mit schwer bepackten Karren werden ins Exil geführt, während assyrische Soldaten die geplünderte Beute zu ihrem König Sanherib auf seinem Thron bringen. Eine Inschrift schreibt dem König selbst den Sieg zu: «Sanherib, der mächtige König, König des Landes Assyrien, sitzt auf einem Thron und beobachtet die Plünderung von Lachisch.» Er thront über der geplünderten Stadt und ihren besiegten Bewohnern wie ein fast gottgleicher Oberherr und schaut dabei zu, wie sie in einen anderen Teil des Assyrerreichs verbracht werden. Diese Praxis der Massendeportation war gängige Politik der Assyrer. Sie siedelten große Gruppen «lästiger» Menschen aus ihrer Heimat in andere Teile des Reiches um, darunter auch nach Assyrien selbst. Das muss eine logistische Herausforderung gewesen sein, aber die assyrischeArmee unternahm dermaßen viele Feldzüge, dass die Deportationen vermutlich schon bald mit fast industriemäßiger Effizienz abliefen.
Die Strategie der Zwangsumsiedlung von ganzen Bevölkerungsgruppen gehört seither zu den konstanten Merkmalen von Imperien. Das aus unserer Sicht vielleicht jüngste Beispiel – das gerade noch so im lebendigen Gedächtnis ist – sind Stalins Massendeportationen der 1930er Jahre. Wie Sanherib wusste auch Stalin sehr genau um die Vorzüge, die es für ihn und seine Herrschaft hatte, wenn er rebellische Völker aus strategisch wichtigen Regionen vertrieb und fern ihrer alten Heimat wieder ansiedelte.
Der Militärhistoriker Antony Beevor stellt diese beiden imperialen Schwergewichte – Sanherib und Stalin – in einen geschichtlichen Zusammenhang:
«Man erkennt, dass Herrscher in der Vergangenheit, beispielsweise bei der Deportation der Judäer nach dem Fall von Lachisch, ihre totale Macht durchsetzen wollten. Es war eine Demonstration ihrer Vormachtstellung.
Im 20. Jahrhundert spielten die Vorstellungen von Verrat, insbesondere politischem Verrat, eine deutlich wichtigere Rolle, wie man am Beispiel von Stalin und der Sowjetunion erkennt. Als es zu den großen Deportationswellen kam, mit denen ganze Völker bestraft wurden, stand dahinter Stalins Verdacht, sie hätten während des Überfalls auf die Sowjetunion, der 1941 begann, mit den Deutschen kollaboriert.
Am schlimmsten betroffen waren natürlich die Krimtataren, die Inguschen, die Tschetschenen, die Kalmücken – insgesamt mindestens drei oder dreieinhalb Millionen Menschen. In vielen Fällen vermutet man, dass 40 Prozent davon im Zuge der Vertreibung und natürlich infolge der Zwangsarbeit nach ihrer Ankunft starben. Doch was heißt ‹Ankunft›? Gewöhnlich war es so,
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