Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
der anderen eroberten, bis der Norden vollständig besiegt war. Die Kuschiten herrschten nun über ein Reich, das sich in etwa vom heutigen Khartum bis zum heutigen Alexandria erstreckte. Um diesen neuen Staat zu regieren, schufen sie eine neue nationale Identität, ein Hybridkonstrukt, das Ägypten und Kusch vereinen sollte.
Taharqa, den die Sphinx im Britischen Museum darstellt, war der bedeutendste aller Könige von Kusch. Er läutete für sein riesiges Reich ein goldenes Zeitalter ein und war vor allem deshalb erfolgreich, weil er den Ägyptern nicht kuschitische Sitten und Regeln aufzwang, sondern deren Gepflogenheiten absorbierte und übernahm. Sogar in Kusch ließ Taharqa Pyramiden nach ägyptischem Vorbild errichten und verehrte den ägyptischen Gott Amun; er ließ Tempelanlagen in ägyptischem Stil umbauen, und seine Beamten verwendeten die ägyptische Hieroglyphenschrift. Dieses Muster erkennen wir immer wieder bei gelungenen Eroberungen: Die Eroberer verwenden die bestehenden Symbole und Vokabeln der Macht, weil die Bevölkerung damit bereits vertraut ist. Und es ist ja auch durchaus sinnvoll, eine Sprache der Kontrolle weiter zu verwenden,die zu akzeptieren jeder gewohnt ist. Die Sphinx des Taharqa ist in ihrer bewussten Vermengung zweier verschiedener Traditionen nicht nur ein eindrucksvolles Porträt des Kuschiten-Herrschers als traditioneller ägyptischer Pharao; sie ist auch eine Lektion in Sachen politischer Strategie. Und für kurze Zeit funktionierte diese Strategie ausgezeichnet.
Diese kurzzeitige sudanesische Eroberung Ägyptens war in der Geschichtsschreibung lange vergessen. Die offizielle ägyptische Lesart spielte das kuschitische Intermezzo herunter, sie verzeichnete die Herrschaft der Kuschiten-Könige einfach als 25. Dynastie und fügte sie damit still und heimlich in eine ununterbrochene Geschichte des ewigen Ägypten ein. Inzwischen jedoch erfährt die historische Rolle des Reiches von Kusch eine völlige Neubewertung, und die sudanesische Geschichte wird in gewisser Weise neu geschrieben.
Eine entscheidende Rolle bei dieser Wiederentdeckung und Neueinschätzung spielte einer unserer Kuratoren hier im Britischen Museum. Derek Welsby, einer der führenden Experten für die Archäologie des Sudan, hatte jahrelang entlang des Nils Grabungen durchgeführt, insbesondere bei Kawa, nördlich von Khartum, wo unsere Sphinx herstammt. Sie sollte dort in einem Tempel Platz finden, der von Taharqa wieder aufgebaut worden war. Dereks Schilderung der Arbeitsbedingungen bei dieser Grabung vermittelt eine Ahnung davon, in was für einem Land die Kuschiten gelebt haben:
«Auf dem Ausgrabungsgelände ist es oft unglaublich heiß. Selbst mitten im Winter kann es sehr heiß sein, doch gerade am frühen Morgen herrschen plötzlich wieder nur 4 oder 5 Grad Celsius, und es weht ein sehr starker Wind. Und um elf Uhr vormittags sind es dann 35 oder 40 Grad Celsius, das ändert sich rasant.
Der Tempel, den Taharqa in Kawa im Herzen von Kusch errichtete, ist von Entwurf und Aussehen her durch und durch ägyptisch – er wurde ja auch von ägyptischen Arbeitern und Architekten erbaut, die Taharqa aus der Hauptstadt Memphis in Unterägypten dorthin geschickt hatte. Doch die ägyptischen Einflüsse überziehen die kuschitische Kultur nur wie eine dünne Schicht. Die indigene afrikanische Kultur war auch während der Kuschiten-Zeit dominant.
Lange war man der Ansicht, die Kuschiten hätten sklavisch Dinge aus Ägypten übernommen und einfach nur ägyptische Vorbilder kopiert, doch heute wissen wir, dass sie sich bewusst Dinge ausgesucht und herausgegriffen haben. Sie nehmen das, was ihre Weltsicht, den Status ihrer Herrscher und so weiter voranbringt,sie behalten aber auch viele Elemente ihrer lokalen Kultur. Besonders deutlich wird das in religiösen Fragen. Man findet nicht nur ägyptische Götter wie Amun, sondern auch die wichtigen lokalen Götter wie Apedemake, und beide werden oftmals in ein und demselben Tempel verehrt.»
An ihrem ursprünglichen Standort im Tempel haben wohl nur der Herrscher und sein engster Zirkel – darunter Priester und Beamte sowohl aus Ägypten als auch aus Kusch – die Sphinx des Taharqa zu Gesicht bekommen. Dort, im innersten Heiligen des Tempels, dürften sich die Kuschiten durch die schwarzafrikanischen Merkmale der Sphinx bestätigt gefühlt haben, während den Ägyptern sofort die spezifisch ägyptische Ikonographie ins Auge stach.
Doch die Sphinx des Taharqa ist nicht
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